Über Schuberts Unvollendete Sinfonie

Abstract

Für eine Sendung im Südwestfunk Baden-Baden im Jahr 1968 analysierte Ernst Krenek ausführlich Schuberts beliebte “Unvollendete” Symphonie. Nach kurzen einleitenden Worten zur Entstehungsgeschichte geht Krenek auf formale Details und die harmonischen Besonderheiten des Werks ein. Er betrachtet auch die fragmentarischen Skizzen zu einem von Schubert nicht mehr ausgearbeiteten dritten Satz.

    Über Schubert's Unvollendete Sinfonie für SWF

    Franz Schuberts Unvollendete Sinfonie in h moll ist so wohlbekannt, daß sie einer analytischen Betrachtung kaum bedarf, falls der Zweck einer solchen Analyse darin bestünde, das Interesse an dem Werk zu erhöhen oder dem Hörer den Zugang zu dem Intalt des Werkes zu erleichtern. Seitdem diese Sinfonie am 17. Dezember 1865 in Wien zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, gehört sie zu den populärsten Werken der sinfonischen Literatur. In den hundert Jahren, die seither vergangen sind, hat sie das Stillschweigen, in das sie über vierzig Jahre versenkt gewesen war, überwältigend wettgemacht.

    Das Beiwort "unvollendet" pflegt die Vorstellung auszu- lösen, daß der Komponist im Wettlauf mit dem Tod unterlag und ein hoffnungsvoll fortschreitendes Projekt aufgeben mußte, weil ein grausames Schicksal es so bestimmt hatte. Auf viele unvollendete Arbeiten trifft das wohl zu, aber im Falle von Schuberts h-moll-Sinfonie ist davon nicht die Rede. Das vom Komponisten signierte Titelblatt gibt als Datum, an welchem wohl die Niederschrift begann, den 30. Oktober 1822, also immer noch sechs Jahre vor seinem Ableben, während welcher noch hunderte anderer Werke entstanden. Wie man weiß, liegen zwei Sätze der Sinfonie vollendet vor. Warum Schubert das so vielversprechende Projekt aufgab, entzieht sich wohl unserer Beurteilung. Für einen dritten Satz gibt er eine fragmentarische Skizze, worüber mehr später.

    Über das Schicksal des Manuskripts ist nicht viel bekannt, außer daß Schubert es nicht lang nach der Vollendung der beiden Sätze es einem gewissen Joseph Hüttenbrenner übergab, mit dem Auftrag, es an dessen Bruder, Anselm, nach Graz weiterzuleiten. Dieser Anselm, drei Jahre älter als Schubert, war in Wien ein Schulkamerad des Kompo- nisten gewesen, mit dem ihn auch nach seiner Rückkehr in die heimatliche Steiermark eine lebenslange Freund- schaft verband. Auch er war Musiker und hatte Ambitionen als Komponist, die immerhin zum Status

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    einer Lokalgröße ausreichten. Er war bis 1839 Präsident des neugegründeten Steiermärkischen Musikvereins. Aus nicht ganz klaren Gründen vernichtete er 1841 seine Tagebücher, die zweifellos viel Information über Schubert enthielten. Nach dem Tode seiner Gattin, 1848, zog er sich mehr und mehr vom öffentlichen Leben zurück und starb zwanzig Jahre später, ein menschenscheuer, etwas schwermütiger Sonderling.

    Am 20. September 1823 richtet Schubert einen Brief an den Steiermärkischen Musikverein, worin er sich für die Ernennung zum Ehrenmitglied bedankt und dem Verein als Gegengabe die Partitur einer seiner Sinfonien verspricht. Ob die später erfolgte Übergabe der Unvollendeten an Hütten- brenner eine Art Erfüllung des Versprechens bedeuten sollte, ist eher fraglich. Jedenfalls behielt Hüttenbrenner das Manuskript für sich, bis es ihm 1865 der Wiener Kapellmeister Johann Herbeck herauslockte und zur Auf- führung brachte. Warum er es nicht früher ans Tages- licht beförderte, darüber kann man nur Vermutungen anstellen.

    Es ist vielleicht müßig, aber doch verführerisch, darüber zu spekulieren, was ein Werk wie diese un- vollendete Sinfonie zu einem Lieblingsstück des Publikums macht. Die Tatsachen, daß es ein Fragment ist, hat gewiß eine gemütsbetonte Nebenbedeu- tung, einen sentimentalischen Unterton, da sie uns an die Gebrechlichkeit des Schönen in der Kunst und an die Vergänglichkeit ihres seines Schöpfers erinnert, obgleich gerade in diesem Fall, wie wir gesehen haben, die Assoziation nicht zutrifft, da Schubert offenbar an dem Projekt das Interesse verlor oder, bedrängt von der un- beschreiblichen Fülle seiner neuer musikalischen Ideen, die Existenz des Fragmentes einfach vergaß.

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    Diese leicht melancholische Aura allein würde aber kaum genügen, um das Stück den Musikliebhabern in aller Welt so begehrenswert zu machen. Of Vermutlich ist es die sanft melancholische Atmosphäre, die den In- halt des Werkes charakterisiert. Bekanntlich scheut der zeitgenössische Komponist beinahe vor nichts mehr zurück, als der Musik - nicht nur seiner eigenen, sondern aller Musik - irgendwelche semantische Bedeutungen zu unterschieben. Während die romantische Geistesver- fassung bis weit in unser Jahrhundert hinein die Überzeugung vertrat, daß Musik Gemütszustände mit großer Genauigkeit nicht nur ausdrücken konnte, sondern auch ausdrücken musste, wenn sie ernst genommen und erfolgreich sein wollte, neigen wir heute zu der Ansicht, daß solche psychologisierende Assoziationen mit außer- musikalischen Gehalten eine durchaus freiwillige und völlig subjektive Leistung des Zuhörers darstellen, während das Wesen der Musik in ihrer der Gestalt ihrer tönenden Materie beschlossen ist. Was diesen Wandel der Ein- stellung verursacht haben mag, ließe sich von ver- schiedenen Gesichtspunkten diskutieren. Daß solche Veränderungen des allgemeinen Bewußtseins periodisch anftreten, läßt sich durch die ganze Geschichte des Abendlandes verfolgen.

    Wenn wir der Unvollendeten Sinfonie soeben eine sanft melancholische Atmosphäre zuschrieben, so bezog sich das auf jene charakteristischen Eigen- schaften ihrer Musik, denen eine traditioneller se- mantischer Kodex eine melancholische Bedeutung zuordnet. Eine solche Zuordnung muß auf langer Tradition beruhen, da erst die Tradition einen Reaktionsmechanismus entwickelt, der es er- laubt, mit bestimmten musikalischen Konfigurationen

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    regelmäßig bestimmte Vorstellungen und emotioneller Natur zu verbinden. Wenn die Tonsprache ungewohnt ist, d. h. von der Tradition abweichend und in über- kommene Normen nicht einordenbar, kann der Reaktions- mechanismus nicht funktionieren, und die traditionsbe- wußten Hörer sind enttäuscht, weil ihnen die Musik "nichts sagt", wie sie das auszudrücken pflegen.

    Daß heute die Reaktionsfähigkeit von Hörern, die willig sind zu glauben, was die Musik ihnen sagt, nicht mehr ganz dieselbe ist wie zur Zeit der Hochblüte roman- tischen Gefühls, läßt sich etwa an einem Bericht ermessen, wonach Schubert es 1823 in Linz passierte, daß in einer pri- vaten Nachmittagsgesellschaft beim Vortrag einiger Lieder durch Schubert und seinen getreuen Sänger Johann Michael Vogl die Damen dergestalt in Tränen aus- brachen, daß das Konzert abgebrochen werden mußte, vorauf erst das Auftragen von gutem Kaffee und Kuchen die Stimmung wiederherstellte.

    (Josef von Spaun, der die Szene beschrieb, gebraucht das etwas stärkere Wort "zu heulen be- gannen")

    Es ist nicht anzunehmen, dass heute viele Hörer der Un- vollendeten so oder ähnlich reagieren werden. Es scheint, dass das Werk gerade deshalb so attraktiv ist, weil es stimmungsmäßig so besonders gut ausgewogen ist. Ohne einförmig zu sein, bewegt es sich in einen auf einer nicht zu breiten Bahn emotioneller Strömungen von vorwiegend sanfter, beruhigender Natur. Es ist cha- rakteristisch, daß die Tempi der beiden Sätze nicht besonders von einander verschieden sind. Der erste Satz ist mit Allegro moderato bezeichnet, und ist also nicht sehr schnell, der zweite mit Andante von moto, und ist demzufolge nicht sehr langsam. Auch das Metrum ist für beide Sätze das gleiche. Das der dreiteilige Takt im ersten Satz als drei Viertel und im zweiten als drei Achtel dargestellt ist, bedeutet nur einen gra- phischen Unterschied. Dramatische Elemente fehlen

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    nicht. Sie sind, wie zu erwarten, besonders im ersten Satz stärker ausgeprägt, aber auch hier gut diszipliniert und dem lyrisch-besinnlichen Charakter des Ganzen als kontrastierender Hintergrund eingebaut. Wenn Maßhalten bezeichnend ist für den Ausdrucksbereich dieser Sinfonie, so gilt das auch für die rein physische Dimension. Dem Werk kann man kaum jene „himm- lische Länge" nachsagen, die an den meisten anderen instru- mentalen Arbeiten Schuberts je nach der Einstellung des Betrachters lobend oder tadelnd hervorgehoben worden ist. Die Diktion ist knapp und frei von mechanisch-wörtlichen Wiederholungen langer Abschnitte. Nur etwa die letzten fünfzig Takte des Andante-Satzes, mögen ein leichtes Mißgefühl von Ungeduld auslösen.

    Wenden wir uns nun den kompositorischen Details zu. Diese sind es nämlich, die den Werk eine so uner- schütterliche Position im Herzen der Musikliebhaber ge- sichert haben, wenn diese auch oft nicht gern zugeben, daß technische Sachverhalte etwas zu tu mit dem ästhetischen Wert eines Werkes zu tun haben. Viele Musikstücke sind stim- mungsvoll, ja sogar poetisch, was schon einen etwas höheren Rang der von ihnen suggerierten Assoziationen bedeutet, aber erst die Vollendung ihrer tönenden Gestalt macht ihre die Botschaft der vortrefflichen Werke überzeugend.

    Die außerordentlich klare und einfache Gliederung der Sinfonie macht es möglich, eines ihrer Formelemente nach dem anderen zu betrachten. Hier ist zunächst das erste solche Element: Ex. 1 Takt 1 - 38

    Hier lassen sich drei verschiedene Bestandteile deutlich unterscheiden. Die ersten acht Takte, für Celli und Bässe allein notiert, enthalten eine Grundidee, die zunächst gar nicht weiter verwendet wird. Sie wird abgelöst von dem so unverwechselbar

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    charakteristischen Geflüster der Geigen, über dem sich alsbald die weit ausgesponnene melodische Linie der Bläser erhebt, die man als das erste Thema dieses Sonatensatzes bezeichnen kann. Es wird von Nutzen sein, vor allem den auf- und absteigenden Sekundschritt ins Auge zu fassen, der die weitere Entwicklung dieses Abschnittes dominiert, zunächst als Ausweichung zu einem betonten oberen Dissonanzton, dann als repetierter Vorhalt mit Auflösung. Klavier T. 17-18, 20-21

    Wie wir schon wahrgenommen haben, kommt dieser Abschnitt, also das erste Thema dieses sinfonischen Satzes, zu einem vollen, absoluten Abschluß in der Haupttonart H moll, mit einer fortissimo Kadenz Dominante-Tonika. Man könnte nichts überzeugenderes finden, wollte man die Komposition an diesem Punkt zu ihrem totalen Ende bringen. Und doch stehen wir erst an ihrem Anfang. Was tut Schubert, um die Musik in Gang zu halten? Antwort: fast gar nichts. Ein Minimum Übergang leitet zum zweiten Thema: vier Takte, von denen drei von einem einzelnen gehaltenen Ton erfüllt sind. Ex. 2: T.38-42

    Das gehaltene D ist die Dominante der nächsten Tonart, G dur, und diese wird im vierten Takt durch eine ganz knappe Kadenzwendung erreicht. Das ist typisch für Schuberts Konzept sympho- nischer Kontinuität. Es ist nicht anders in der großen C dur Sinfonie. Hier ist das Ende des ersten thematischen Komplexes im ersten Satz, ebenso definitiv wie in der Unvollendeten, und ein noch minialerer weiter reduzierter Übergang von zwei Takten. Ex. 3. C dur, p. 19/20

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    Die Dominante der neuen Tonart, E moll, wird ganz kurz berührt, und schon sind wir im zweiten Thema. Die gleiche Situation findet sich im letzten Satz. Das erste Thema stoppt auf seiner Dominante, kurze Generalpause, die Hörner spielen die Dominante von G dur an, und das zweite Thema- setzt unvermittelt ein. Ex. 4 C dur p. 220

    Vergleichen wir damit etwa Beethoven's Prozedur, so wird ein entscheidender fundamentaler Unterschied deutlich. Hier zum Beispiel der korrespondierende Übergang vom ersten zum zweiten Thema im ersten Satz der Pastoral Sinfonie: Ex. 5 Beeth. VI, . . . . .

    Man fühlt deutlich, wie der Komponist den festen Boden von F dur nach und nach verläßt und in einer Passage von vierzehn Takten auf die Do- minante von C dur hin manövriert. Die analoge Stelle aus der Siebenten Sinfonie: Ex. 6. Beeth. VII

    Hier ist das Verfahren noch raffinierten. Während Beethoven die Solidität der Grundtonart A dur schon aufzulösen beginnt, behält er die Substanz des ersten Themas noch bei: Klav. weglassen

    Für sieben Takte hält er sich in cis moll auf, und erst dann wendet er sich definitiv der angestrebten Dominant-Tonart E dur zu. Der Übergang ist so fließend und kontinuierlich, daß man zunächst nicht sicher sein kann, ob die Erreichung von E dur auch mit dem Eintritt eines zweiten Themas zusammen- fällt. Andere, charakterische Motive, die erst ein paar Takte später auftreten, könnten so gedeutet werden. Und hier ist einer der wesentlichen Punkte,

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    in welchem sich die kompositorischen Denkweisen von Beethoven und Schubert unterscheiden. Beethoven strebt mehr und mehr danach, den ganzen Sonaten- oder Sinfoniesatz als ein in sich zusammenhängendes, von Punkt zu Punkt unausweichlich fortschreitendes Ganzes zu sch darzustellen, einen Strom, aus dem sich thematische Elemente als vorübergleitende Inseln abheben, ohne fest umrissene Gestalt zu gewinnen und zum Verweilen einzuladen. Der Unterschied wird ganz deutlich, wenn wir jetzt Schubert's zweites Thema betrachten, jene Melodie, der die Unvollendete zweifellos ihre legendäre Beliebtheit verdankt: Ex. 7 Schubert, T. 42 - 61

    Das ist nicht irgendwie unmerklich aus einem viel früher in Gang gesetzten Prozess nach und nach entwickelt wie es bei Beethoven vor allem in seinen späteren Werken beobachtet werden kann. Es beginnt, als ob ihm nichts vorhergegangen wäre, und es bricht ab, weil es eben leider nicht weitergehen darf, denn wir sind ja mitten in einem Sinfoniesatz, und da gibt es noch viel zu tun, obschon man vielleicht lieber dieses schöne Lied weiterspinnen möchte. Denn dieses Thema ist präsentiert wie einer von den hunderten oder tausenden von Liedsätzen, die Schubert in seinem kurzen Leben geschaffen hat. Es ist für sein ganzes Lebenswerk charakteristisch, daß jede thematische Idee danach strebt, sich zu einer in sich geschlossenen lyrischen Gestalt zu kristallisieren. Das ist typisch romantisch und durchaus entgegengesetzt der kon- struktiv vorwärtsdrängenden Kontinuität, wie sie Beethoven geprägt, Brahms weitergeführt und Schönberg in einer neuen Tonsprache fortentwickelt hat. Von diesem dem lieblichen Gebilde dieses zweiten Themas wollen wir vor allem die Konfiguration des dritten Taktes im Auge (oder im Ohr) behalten: Klavier

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    Das Lied bricht ab, und es folgt eine dramatische Geste, als ob der Komponist sich plötzlich erinnert hätte, was man dem richtigen sinfonischen Stil schuldig ist. Sie ist Auch die Fortsetzung entspricht diese der Vorstellung dieses Stils. Wir haben eine Passages, die aus einer Reihe zwischen tieferer und höherer Lage pendelnder Wiederholungen des eben hervorgehobenen Elementes des zweiten Themas besteht. Ex. 8 73 - 84

    Das klingt ein wenig wie Imitation, obgleich von Kontrapunkt keine Rede sein kann, und damit erinnert es typisch an die Charakterstika der sinfonischen Durchführung. Der erste Teil des Satzes, die sogenannte Exposition, bringt das schöne Lied zurück und schließt seine verkürzte Fassung beruhigend ab. Ex. 9 94 - 104

    Die von der Klassischen Tradition verlangte wörtliche Wieder- holung der Exposition wie auch der nach der Wiederholung beginnende Durchführungsteil werden wieder ohne jede Überleitung durch anscheinend gänzlich kunstlose Juxtaposition angeschlossen. Ex. 10 a) 104 - 109 b) 104 - 112

    Die Durchführung befaßt sich vor allem mit der in den ersten acht Takten des Werkes dargestellten, aber bisher außer acht gelassenen Idee. Vom zweiten Thema hören wir nur ab und zu den synkopierten Rhythmus, der den Eintritt der Liedmelodie begleitet. Klavier Hier ist jetzt der ganze Anfang des Durchführungsteils: Ex. 11 114 - 154

    Wir haben vorhin das Wort "kunstlos" gebraucht. Das war natürlich nicht so gemeint, als hätte Schubert nicht in seiner sprichwörtlichen Naivität nicht gewußt, wie man richtig komponiert, was ihm ja oft genug vor- gehalten und nachgesagt worden ist. Wenn er seine Themen übergangslos nebeneinanderstellt, zeigt das nicht etwa, daß er keine Übergänge schreiben konnte,

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    sondern höchstens, daß seine Vorstellung von musikalischer Struktur so beschaffen war, daß die von anderen Komponisten bevorzugte Technik des Übergangs nicht notwendig war. Die Durchführung, die wir im Augenblick betrachten, beweist, daß Schubert ein außerordentliches Feingefühl für motivische Beziehungen hatte. Die erste Phrase des Themas Themas, das er der Durchführung zugrunde legt, lautet: Klavier

    Sehr bald erscheint es in der Umkehrung, d.h. statt aufzu- steigen geht es abwärts: Klav

    Das aber bringt es in enge Nachbarschaft zu der Kette von Vorhalten, die wir im ersten Thema beobachtet haben: Klav

    Und die pizzicatos, die jetzt als Unterbau der vom zweiten Thema bezogenen Synkopen auftreten, sind eine Vergrößerung, d. h. rhythmische Ausdehnung des vierten Taktes der Anfangsidee des ganzen Werkes. Klav 166 - 169, und 115 - 119

    Das alles ist ebenso so geistreich und konzentriert wie viele ähnliche Durchführungsideen, die man bei Beethoven finden kann man es sich nur wünschen kann.

    Die Knappheit dieser Durchführung verleiht ihr einigermaßen eine Ausnahmsstellung in Schubert's sinfonischem Schaffen Behandlung der Sonatenform, indem er sich hier auf das Material der Exposition und sogar auf einige wenige ihrer Elemente beschränkt. In anderen Werken, vor allem in den Klaviersonaten, hat Schubert vielfach die Tendenz, die definitionsmäßig flüssige Substanz der Durchführung wiederum zu mehr oder weniger soliden liedhaften Bildungen gerinnen zu lassen. Ein markantes Beispiel zu bietet etwa die Große B dur Sonate. Ihr Hauptthema erster thematischer Komplex hat hauptsächlich zwei Elemente: Ex. 11 a) B dur Son. 1 - 10 b) fis moll Stelle

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    Das Im zweiten Komplex enthält lassen sich etwa diese Gestalten unterscheiden: Ex. 12 a) f dur mit - zweimal! und b) Akkordstelle gegen Schluß.

    Die Durchführung nimmt sogleich das erste Thema auf, aber statt es aufzulösen, wie es der Idee der Durchführung entspricht, benützt Schubert den ersten Takt als Stich- wort zu einer kleinen lyrischen Gestalt, die man als Variation jenes Themas betrachten könnte. Ex. 13 Beginn Durchführung

    Etwas später verwendet er einen unscheinbaren Begleitungs- rhythmus, um daraus einen anderen Lyricismus zu entwickeln: Ex. 14 Des dur Stelle

    Und damit nicht genug: dieselbe Figur dient ihm zu einem weiteren, besonders reizvollen poetischen Erguß, der mit der Substanz der Exposition sehr wenig und mit dem dynamischen Charakter der traditionellen Durchführung gar nicht zu tun hat. Ex. 15 D moll Stelle

    Während Schubert's Naturell ihn immer wieder dazu drängt, das fließend Vorwärtsdrän- gende aufzuhalten und zu geschlossenen liedhaften Formen zu kristallisieren, die er oft nebeneinanderstellt, ohne sich über ihre Verbindung allzusehr den Kopf zu zerbrechen, zeigt der spätere, aber zu Beethoven die entgegengesetzte Tendenz. Er wartet mit der Auf- arbeitung eines klar ausgesprochenen Themas gar nicht erst ab, bis das überlieferte Formschema das Signal für den soge- nannten Durchführungsteil gibt, sondern er läßt das Thema erst gar nicht feste Gestalt annehmen. Hören wir etwa den ersten Abschnitt des A moll Quartetts, opus 132: Ex. 16 A moll Qu. 1-47

    Skizze III 29 min. 2½ 12

    In musikhistorischer Perspektive gesehen, ist Schubert's Verfahren als fortschrittlich zu betrachten, da es den neuen Prinzipien romantischer Aesthetik entspricht. Jedoch auf lange Sicht ist hat die Gestaltungsweise Beethovens stärkere Geltung gewonnen. Die neue Musik des 20. Jahrhunderts mit ihrer Betonung der unabhängigen melodischen Linien und des stark verflochtenen kontrapunktischen Netz- werks hat die fließenden, dynamischen Charaktere des Durchführungswesens mehr in den Vordergrund gestellt als die verweilenden, in sich ruhenden lyrischen Gestalten. Als Beispiel möge der Anfang von Schönbergs Violin- konzert gelten. Hier präsentiert sich als Hauptbestand- teil des ersten thematischen Komplexes deutlich genug eine Phrase bestehend aus auf- und absteigenden Halbton- Schritten. Ex. 17 Schönberg 1-8

    Aber in der Fortsetzung verschwimmen die Konturen alsbald, kontrapunktische Gegenstimmen dehnen sich über die Einschnitte der individuellen Phrasen, das ur- sprüngliche Motiv erscheint verkürzt, in Engführung und so fort - in anderen Worten, das Bild des musi- kalischen Verlaufs entspricht viel mehr dem Charakter, der traditionell für den Durchführungsteil reserviert war, als den vor Beethoven bei Schubert stets klar artikulierten Gestalten der Exposition Ex. 18 Schönberg 1-35

    Es ist jedoch interessant, daß in der neuesten Musik doch wieder etwas von Schubert's Vorstellungsweise. reflektiert ist. So wie dort die vom einzelnen Gebilde ausgestrahlte Aura das ausschlaggebende Moment ist, während der durch fortgesetztes Beobachten und Vergleichen erfahrbare Zusammenhang eine geringere Rolle spielt, so haben auch viele unserer jüngeren Zeitgenossen ihre Sache auf den in jedem Augenblick von der tönenden Materie emanierten

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    Reiz gestellt und auf eine zusammenhängend verfolg- bare Struktur weitgehend verzichtet. Natürlich besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen der romantischen Menta- lität, die sich an der unerschöpflichen Sequenz einer poetischen Bildergalerie erfreut, und der existen- tialistischen Disposition, die die Intensität des Erlebens vom Augenblick erwartet und eine Sinngebung des Zusammenhangs als unerheblich verwirft. Immerhin bestehen da gewisse Parallelen, und es ist reizvoll sie zu beobachten, wenn auch ihnen geschichtlich und philo- sophisch nachzugehen den Rahmen dieser unserer Betrachtung bei weitem übersteigen würde.

    Kehren wir jedoch nun zu der Unvollendeten zurück, denn unsere Analyse ist noch lange nicht vollendet. Der dritte Teil des ersten Satzes wird Reprise genannt, da sich in ihm die Vorgänge der Exposition wiederholen, wenn auch mit anderer Zielrichtung. Denn in der Exposition wird eine von der Grundtonart abweichende Tonalität angesteuert, während in der Reprise jene Grund- tonart befestigt werden soll. Wiederum ist liegt hier eine merkwürdige Kombination von kunstloser Einfach- heit und kunstgriffiger Arglist vor. Da Schubert in seiner Exposition des ersten Themas, wie wir gesehen haben, keine fremde Tonalität angesteuert hat, sondern das getan hat, was die Reprise von ihm erwartet, nämlich die Befestigung der Haupttonart, könnte er sich jetzt gewissermaßen zur Ruhe setzen und seine Exposition wörtlich wiederholen. Er ist auch in Bezug auf the- matische Problenstellung nicht sehr arbeitsam, in- dem er auf jene zusätzliche Durchführung des Hauptthemas verzichtet, die bei Mozart und Beethoven an dieser Stelle ihrer Reprisen eine so bedeutende Rolle spielt. Hören wir etwa, was sich Beethoven in der Siebenten an dieser Stelle ausgedacht hat, um die Wie- derholung des Haupthemas interessanter zu machen:

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    Statt dessen ist Schuberts Phantasie viel stärker mit den ton- artlichen Beziehungen seiner thematischen Komplexe beschäftigt. Wie wir schon bemerkt haben, weicht er von der konventionellen Verteilung der Tonarten in der Sonatenform gleich am Anfang ab, indem er das Hauptthema in der Haupttonart abschließt, statt es einer Art Doppelpunkt zuzuführen, der auf die vom zweiten Thema zu erwartende Tonart vorbereiten würde. Da es sich um ein Stück in H moll handelt, müßte das zweite Thema nach allen Regeln des ehrwürdigen Rezeptierbuchs in der sogenannten parallelen Dur-Tonart stehen, d. h. in jener die die gleichen Vorzeichen hat wie die ursprüngliche Moll- tonart. Also: H moll hat zwei Kreuze, daher ist die Tonart des zweiten Themas D dur, welches bekanntlich auch zwei Kreuze hat. Nicht so bei Schubert: er schließt sein Haupt- Thema in H moll, als sollte überhaupt nichts mehr nachkommen, und verschiebt die Ebene des Geschehens ohne jeden Übergang auf das völlig unerwartete Niveau von G dur. In der Reprise sollte nunmehr das zweite Thema in der sogenannten gleichnamigen Dur Tonart stehen, d. h. jener, die denselben Grundton hat wie die ursprüngliche Moll-Tonart, also in unserem Falle H dur. Nicht so bei Schubert: jetzt nämlich tut er, was er in der Exposition hätte tun sollen, d. h. er setzt das zweite Thema in die parallele Dur Tonart, nämlich D dur. Das macht es aber nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, den Komplex des Hauptthemas so zu variieren, daß sein Ende zu dem gewählten D dur des zweiten Themas im selben Verhältnis steht wie das Ende des ersten Themas in der Exposition zu dem G dur des dortigen zweiten Themas. Wenn Da G eine große Terz tiefer liegt als H, muß der jetzt fällige Abschluß des ersten Themas eine grosse Terz, höher liegen als D, d. h. Fis. Und so manövriert Schubert sein Hauptthema mit ein paar chromatischen Verschie- bungen nach Fis moll, ohne daß es jemand richtig merkt. Wir hören jetzt die Reprise bis zur Mitte des zweiten Themas. Ex. 18 19 Schubert 218 - 267 (im Vortrag als zweites 18 gezählt)

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    Und das Daß man nicht richtig merkt, was da passiert, ist eines der Geheimnisse von Schuberts seines Verfahrens. Die Er- klärung, die wir hier herausgearbeitet haben, klingt unbe- schreiblich viel komplizierter als die Musik, die sie zu er- klären sucht. In den ungezählten Sonatensätzen, die Schubert geschrieben hat, experimentiert er von Zeit zu Zeit immer wieder mit Tonartbeziehungen, die von der etablierten Konvention abweichen. Jedoch die extra Scharniere, die er anbringen muß, um die auf ungewohnten Niveaus ausgelegten Teile in fließend elastischem Zusammenhang zu halten, sind den wohlbekannten Mustern des traditionellen Vorrats so nahe verwandt, daß die Originalität der Grundidee niemals schockierend wirkt, ja oft nicht einmal bemerkt wird.

    Ein solches extra Scharnier erscheint am Ende der Reprise des zweiten Themas. Nachdem sich Schubert den Luxus geleistet hat, dieses Thema in D dur vorzuführen statt in dem von der Tradition verlangten H dur, muß er nun das musikalische Geschehen auf dieses Niveau herunterzubiegen. Und er tut gerade das, indem er an die Stelle, an der das zweite Thema in der Exposition abbricht, eine viertaktige Sequenz an- hängt, die das Niveau rein mechanisch von D nach H herunterbringt. Das ist, vom Standpunkt des Kompositions- handwerks, ebenso primitiv wie raffiniert, kunstlos wie arg- listig. Nicht jeder kann sich das leisten. Hier ist jetzt dieser zweite Teil des zweiten Themas mit Anschluß an die Fortsetzung. Ex. 19 267 - 285

    Die Coda des Satzes enthält keine weiteren Überraschungen. Wie zu erwarten, beginnt sie so wie die Durchführung mit jenem allerersten Gedanken des Satzes und stützt sich vor allem auf dessen erste zwei Takte.

    Greifbare, auf deutlich erkennbare Absichten des Komponisten zurückführbare Beziehungen zwischen den beiden vollendeten Sätzen der Unvollendeten herauszu- arbeiten, wäre vermutlich allzu weit hergeholt. Ein Kom- ponist, der notwendigerweise so schnell arbeitet wie Schubert, wird im allgemeinen nicht viel Zeit darauf verwenden, ein längeres Werk mit vielverschlungenen zyklischen

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    Motivbeziehungen auszustatten. Bei Schubert läßt sich als vereinzelter Fall etwa die Klaviersonate in A dur nachweisen, wo die Schlußtakte des letzten Satzes vielleicht als Zitat der ersten Takte des ersten Satzes aufgefaßt werden können. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, daß ge- rade der flotte Arbeiter, selbst wo er innerhalb eines ausgedehnten Werkes bewußt nach kontrastierenden Ideen strebt, sich in einem ihm selbst weniger bewußten Bereich gewisser allgemeiner Grundmuster bewegt, so daß sich auch in kontrastierenden Abschnitten manche ähnliche Gesten beobachtet werden können.

    Der zweite Satz der Unvollendeten beginnt mit zwei Takten, in denen die Kontrabässe ihre tiefste Oktave in gemessenem pizzicato durschreiten, was sich als Einleitung zu dem im dritten Takt einsetzenden Thema der oberen Streicher er- weist. Irgendwie erinnert diese einleitende Figur an den Anfang des ersten Satzes, der ebenfalls eine den tiefen Streichern übergebene einleitende und durch und den Bereich der tiefsten Oktave absteigende Passage darstellt, nur daß diese länger und gewichtiger ist als die Bassfigur des zweiten Satzes. Hören wir jetzt die erste Darstellung des Themas: Ex. 19 20 II 1-16

    Wenn die ersten zwei Takte eine Erinnerung an den ersten Satz wachrufen, so läßt sich das auch von dem melodischen Profil des Themas sagen. Die Figur Klav ist einigermaßen verwandt dem Sekundschritt, den wir am Anfang des ersten Satzes wahrnahmen. Klav Ein auffallendes Koloristisches Element ist der sogenannte alterierte Akkord Klav. vor dem Ende des Themas. Er entsteht dadurch, daß in dem Standard Akkord der 4. Stufe drei Töne verändert werden:

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    gis zu g, Klav cis zu c Klav. und a zu ais Klav. Das Resultat ist statt . Diese Alteration, oder Veränderung ist besonders typisch für das romantische Vokabular, und der so veränderte Akkord der 4. Stufe gehört zu ist ein Lieblingsstück in Schubert Handwerkszeug. Wir werden etwas später sehen, warum er ihn so gern und oft verwendet hat. Knapp vor Schluß des Themas wird die ruhige Achtelbewegung zum ersten Mal in Sechzehntel aufgelöst Klav Diese Formel, von Schubert vielleicht etwas allzu gründlich ausgenützt, führt zu einer Variante des absteigenden Astes der thematischen Linie, statt Klav. hört man jetzt , und das bringt auch wieder den Sekundschritt ins Spiel, jetzt stark verkürzt. Hier die Fortsetzung des Themas, die zu dieser eben besprochenen Schlußwendung führt. Ex. 20 II 16 - 32

    Im folgenden Abschnitt, der das volle Orchester mit einer Art lokaler Durchführung der thematischen Substanz beschäftigt, tritt die Beziehung des Sekundschrittes zum ersten Satz noch deutlicher hervor, da er jetzt auch analog rhythmisiert ist: Klav

    Wiederum führt ein rudimentärer Übergang zum zweiten Thema des Satzes. Vier Töne in den ersten Geigen, und das Thema setzt sogleich ein, in cis-moll, der parallelen Molltonart. Ex. 21. II 60 - 83

    Das ist eine weit ausgespannte Melodie, achtzehn Takte ohne Unterteilung durch periodenbildende Symmetrien, wie eine Hängebrücke, die sich ohne Pfeiler über ein weites Tal schwingt. Die Spannung wird ge- tragen von dem harmonischen Geschehen, das sich von jenem alterierten Akkord gespeist wird, auf den wir schon früher aufmerksam geworden sind. Hier ist es der Akkord der 6. Stufe von cis moll, der zunächt

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    ganz wenig verändert wird, durch Senkung des gis zum g (Klav.) Das aber macht ihn zum Dominant Akkord von D dur, einer himmelweit entfernten Tonart. Nach den Konventionen des tonalen Zeitalters sind jene Tonarten nahe verwandt, deren Grundtöne im Quintenzirkel angeordnet sind, also beginnend mit cis erhalten wir die Reihe gis dis b, f c g d. Das heißt also, daß D dur sieben Stellen weit entfernt ist von Cis moll abliegt, also nicht einmal mehr als entfernten Cousin zu betrachten. Aber durch den eben analysierten alternierten Akkord rückt diese Tonart in die nächste Nähe. Und in ein paar Takten enthüllt Schubert denselben Akkord als eine Alteration der 4. Stufe von Des dur und wiederholt nun seine weitgeschwungene Melodie in dieser Tonart. Wiederum ist die Beschreibung des Prozesses viel umständlicher als der musikalische Vorgang, den sie erklären soll, dem Ohr des Empfängers erscheint. Es darf angenommen werden, daß das nur deshalb so ist, weil wir Vorgänge dieser Art so oft wahrgenommen haben, daß sie uns zur zweiten Natur geworden sind. Im Grunde genommen sind jedoch die Prozesse der tonalen Harmonie, die so oft und gern als selbstverständliche Resultate naturgegebener Prinzipien hingenommen werden, äußert kompliziert. Hier ist nun der zweite Teil dieses Themas, nämlich seine Wiederholung in Des dur: Ex. 22. II 84 - 95

    Hier wird klar, warum wir bei der Besprechung des ersten Satzes auf jene von seinem zweiten Thema ab- geleitete rhythmische Figur besonders hingewiesen haben. Hier Sie erscheint sie nämlich jetzt wieder, u. zw. als Bestand- teil eines ganz anderen Themas, wobei auch noch der von uns beobachte Sekundschritt wieder erscheint, jedoch rhythmisch verkürzt und in seiner Richtung umgekehrt, nämlich ab - auf statt auf - ab.

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    Auch dieses Thema hat seine kurze, lokale Durchführung, die auch hier dem vollen Orchester anvertraut ist. Sie ist der dramatische Höhepunkt des Satzes, indem hier die Bewegung noch weiter beschleunigt wird, durch Einführung von Zweiunddreißigsteln. Ex. 23 II 96 - 110

    Nach einigen hübschen Rundgängen durch andere Tonarten kehrt Schubert zum Ausgangspunkt zurück, um die Reprise einzuleiten. Ein ganz geringes Detail ist von Interesse. Der Konvention der Zeit entsprechend wäre es normal gewesen, das E dur des ersten Themas durch den Dominant Akkord einzuführen: Klav Wiederum vermeidet Schubert das Alltägliche, indem er den Dominant Akkord einfach überspringt. Seine Variante ist durchaus originell, wenn auch nicht drastisch. Ex. 23a

    Ex 24 II 135 - 142

    Von hier an ist der Verlauf des Satzes durchaus parallel zu seinem ersten Teil, aber wiederum weicht die Verteilung der Tonarten vom konventionellen Schema etwas ab. Das zweite Thema erscheint nicht in der Haupttonart E dur, wie es erwartet werden konnte, sondern in A, zunächst Moll, dann Dur, wie im ersten Teil. Das macht wiederum die Anbringung eines jener zusätzlichen Scharniere notwendig. Nach dem durchführungsartigen Einsatz des vollen Or- chesters wird eine kleine Modulation eingeschoben; sie führt uns zu jenem dem so fest etablierten charakteristischen alternierten Akkord zurückführte zurück, der schon mehrfach den Abschluß des musikalischen Verlaufes angezeigt hatte. Ex. 25 II 237 - 261

    Die Coda ist so gestaltet, daß zunächst wieder die Über- gangstöne der ersten Geigen erscheinen, als wollte man noch einmal das zweite Thema bringen und nochmals in abliegende Tonarten schweifen, jedoch die Holzbläser biegen zwei solcher Versuche sogleich ab, indem sie sich auf das Hauptthema besinnen. Ex. 26 II. 280 - 300

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    und die vielbemühte Sechzehntelfigur bringt den Satz zu Ende. Die Wiederholungen der einzelnen Strukturbestandteile in der zweiten Hälfte sind zwar wörtlich, was die musikalische Sub- stanz betrifft, aber nicht mechanisch, indem die Verteilung dieser Substanz auf die Instrumente variiert wird. Noch kann man in dieser Sinfonie nicht von jenem romantischen Klangfarbenbewußtsein sprechen, wie es sich eine Generation später bei Berlioz und Wagner nachdrücklich ausprägt. Immerhin verwendet Schubert die verschiedenen Farb- töne seines auf das klassische Instrumentarium be- schränkten Orchesters, um die architektonischen Linien der Zeichnung hervortreten und in wechselndem Licht erscheinen zu lassen. Es fällt auf, daß Schubert drei Posaunen vorschreibt, während nur je zwei Hörner und Trom- peten vorgesehen sind. Das mag darauf zurückzuführen sein, daß den Posaunen etwas mehr chromatische Beweglich- keit zugetraut werden konnte als den hauptsächlich auf die sogenannten Naturtöne beschränkten leichteren Blech- bläser.

    Er bleibt jetzt noch die fragmentarische Skizze für einen dritten Satz der Unvollendeten zu besprechen. Die Skizze besteht aus einem vollständigen Scherzo von 114 Takten, wovon etwas mehr als die Hälfte als eine Art zweihändiger Klaviersatz ausgeführt ist, während der Rest meist nur eine Tonlinie in der rechten Hand aufweist. Von einem Trio ist nur eine Melodielinie von 16 Takten vorhanden, etwa ein Drittel des Ganzen. Einige Charakteristika des Scherzo Fragmentes legen die Vermutung nahe, daß Schubert tatsächlich daran gearbeitet hat, als er noch von den Ideen der ersten zwei Sätze erfüllt war und an eine Vollendung des ganzen Werkes denken mochte. Auch das Scherzo beginnt wie der erste Satz mit einer einstimmigen Tonlinie von acht Takten, die in der Tonart von H-moll eine Oktave absteigend

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    durchmisst, wenn auch diesmal fortissimo vom vollen Orchester gespielt. Klav. Ex. 1-8

    Diese acht Takte auch in hat Schubert auch vollkommen instrumentiert. Die Fortsetzung führt zu einer Wiederholung dieser einleitenden Phrase und so wie im ersten Satz die vom zweiten Thema angeschlagene Nebentonart unorthodoxerweise G dur ist, wendet sich auch hier die Musik dieser Tonart zu. Ex. 9- 40

    Der zweite Teil des Scherzos hat den seit Beethoven zur Norm gewordenen Durchführungscharakter. Es ist bemerkenswert, daß auch hier die in ihrer Torartverteilung dem Modell des ersten Satzes folgt. Wir erinnern uns, daß dort das zweite Thema in D dur statt in dem erwarteten H dur stand, und auch hier wendet sich die Reprise des Scherzothemas dezidiert nach D dur und verweilt dort auffallend lang, worauf H moll umso eiliger wiederhergestellt wird. Dazu paßt, daß der Schluß geradezu überstürzt und abrupt herein- bricht, als ob man die in der Ddur Episode versäumte Zeit aufholen wollte. Normalerweise würde dem Viertakter Klav. 109-112. ein symmetrischer Viertakter entsprechen: Hier aber heißt es: 109-114. Diesen Das ist unnachahmlich charakteristische, echt Schubertische Kompositionstechnik. Kein anderer Komponist hat diese Störung und Wiederherstellung des metrischen Gleichgewichtes mit solcher Virtuosität gehandhabt.

    die darauf folgende Reprise.

    Das Schöne an Schuberts Unvollendeter ist, daß sie, wie alle wirklich bedeutenden Kunstwerke, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann und jedem Betrachter ein anziehendes und interessantes Bild bietet. Den Musikliebhaber, der sich von den emo- tionellen Gehalten dieser Sinfonie angenehm berührt fühlt, mag es freuen zu hören, das ihr Urheber kein dumpfes Schwammerl, sondern ein sehr aufge- weckter, ja raffinierter Compositeur gewesen ist.

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    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Über Schuberts Unvollendete Sinfonie

    Untertitel

    [Vortrag für eine Radiosendung des SWF]

    Vortragsdatum

    1968

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    21

    Signatur

    LM-183

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Romantik, Musikalische Analyse, Orchestermusik
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