Krenek, über eigene Werke

Abstract

In einer Radiosendung des WDR im Jahr 1964 stellt Krenek einige seiner jüngeren Werke vor. Entgegen der Tendenz der jüngeren Komponistengeneration die zunächst von ihnen selbst propagierte Technik des seriellen Komponierens aufzugeben, verteidigt Krenek das für ihn noch nicht erschöpfte „weite Feld neuer Gestaltungsmöglichkeiten“.

Von seiner Sestina, op. 161 bis zur Oper „Der goldene Bock“, op. 186 erklärt er seine kompositorische Entwicklung der letzten sechs Jahre und wie sich sein Umgang mit seriellen Techniken geändert hat. Seine Ausführungen der rund einstündigen Sendung illustriert er durch Hörbeispiele aus den besprochenen Werken.

    Krenek, über eigene Werke WDR

    In meinem Beitrag zur Festschrift für Theodor Adorno's 60. Geburtstag schrieb ich über mich selbst: "Ich bin (im Geist) nicht alt genug, um mich mit einer konformistischen, pseudo-traditionellen Schreibweise zur Ruhe zu setzen. Ich bin (in Jahren) nicht alt genug, als daß meine avantgardistischen Ar- beiten... ihres Propagandawertes wegen gewürdigt wären. Ich sitze, wie so oft, zwischen zwei Stühlen, was ich schon vor dreißig Jahren als den einzig würdigen Platz erachtete... Wie Sie sehen, fürchte ich zu spät zu kommen, und daher bemühe ich mich zu beweisen, daß ich schon längst dort war."

    Das war natürlich etwas zugespitzt ausgedrückt und nicht ganz ernst gemeint. In Wahrheit finde ich es nicht so besonders wichtig, ob die technischen Verfahren, die in der Herstellung eines Kunstwerkes angewendet werden, völlig neu oder aus bereits bekannten und anders wo früher verwendeten Methoden hergeleitet sind. Ich teile nicht die Nervosität, die manche Beobachter der Entwicklung immer wieder dazu veranlaßt, das Veralten der neuen Musik als Schreckgespenst an die Wand zu malen. Die Grundideen und Denkweisen, die die Zwölfton- technik und später die serielle Musik bevorgebracht haben, überleben sich nicht so schnell, wenn auch im Lauf der Jahre und Jahrzehnte die praktische Anwendung dieser Prinzipien viele Wandlungen durchmacht, die sich in dem großen Reichtum an verschiedenartigen ihrer Ausprägungen in der so geschaffenen Musik spiegeln.

    Wenn heute das Interesse der jüngeren Komponisten sich auf Phänomene konzentriert, die mit denen des Serialismus nicht viel zu tun zu haben scheinen, so bedeutet das noch lange nicht, daß die Möglichkeiten der seriellen Musik er- schöpft sind. Mir scheint im Gegenteil, daß die serielle Total-Organisation, die vor etwa zehn Jahren einen in den fünfziger Jahren zu voller Blüte gelangte, eins weites Feld neuer Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet hat, die noch keinerwegs völlig durchgearbeitet sind.

    2

    Ich kommen mir daher weder des Reaktionär noch als Nach- zügler vor, wenn ich in diesem Schaffensbericht von zwei Arbeiten ausgehe, die in denen ich die serielle Total-Organisation auf meine Art zu verwirklichen suchte. Dies erste dieser Werke ist die Sestina, geschrieben 1957 für eine Singstimme und 9 bis 10 Spieler. Ich wurde auf die poetische Form der Sestina aufmerksam gemacht, als ich damals an der Universität Princeton ein kunstkritisches Seminar abhielt, in dem ich die Prinzipien der seriellen Musik erörterte. Wie man weiß, be- steht die Sestina aus sechs Strophen von je sechs Zeilen, und die sechs Worte, die am Ende der Zeilen der ersten Strophe stehen, kehren in den folgenden Strophen an den beiden Versenden wieder, aber in einer sich gesetzmäßig ver- ändernden Reihenfolge. Das ist zweifellos eine serielle Formidee, er- funden und zuerst angewendet von den provencalischen Troubadours im 12. Jahrhundert. Vielleicht war es mein stets waches und leicht entzündliches Geschichtsbewußtsein, das mich veranlaßte, meine erste große total-serielle Arbeit an die poetische Form der Sestina anzu- knüpfen. Ein anderer Umstand dürfte jedoch von größerer Bedeu- tung gewesen sein. Die serielle Idee der Reihe, d. h. einer von außen her gegebenen, konstanten und durch das ganze Werk hindurch festzu- haltenden Anordnung der Elemente des Werks, war hier verbunden mit der Idee der Rotation, worunter ich die ebenfalls gesetz- mäßig, also reihenhaft geregelte progressive Abwandlung, die systematische Veränderung der ursprünglichen Konstanten verstehe. Diese Idee hatte mich schon von 1940 an beschäftigt, als ich meiner Lamentatio ein Netzwerk von Zwölftonreihen zugrunde legte, die von der ursprünglichen Grundreihe durch ein System von Tonvertauschungen abgeleitet waren. Ich fand, daß die Rotations- idee in meinen total-seriellen Versuchen entscheidende Bedeutung hatte, da erst durch ihre Anwendung die reihenmäßige Diszipli- nierung aller Aspekte des musikalischen Vorgangs mit jener Reichhaltigkeit und Gestaltenfülle vereinigt werden konnte, die mir als unerläßliche Voraussetzung aesthetischen Interesses erscheint. Es ist hier weder möglich noch notwendig, in die technischen Details der Ausarbeitung einzugehen. Es möge genügen auszudeuten, daß die Zwölftonreihe in zwei Sechstongruppen zerlegt wurde, von denen jede nach dem Rotationsprinzip der Sestina behandelt

    Ich schrieb also zunächst ein Gedicht, das die seine eigene Formidee und den ganzen Gedankenkomplex der seriellen Musikorganisation zum Gegenstand hat. Die sechs Schlüsselworte sind: Strom, Mass, Zufall, Gestalt, Zeit, Zahl. Die Grundidee tritt in den letzten drei Zeilen hervor: "Wie ich mit Maß bezwinge Klang und Zeit, entflieht Gestalt im unermessnen Zufall. Kristall der Zahl entläßt des Lebens Strom." Gemeint ist, daß die totale Organisation das traditionelle Gestaltwesen, das Thematische ausschaltet und dialektisch dem Zufall das Tor öffnet. Ich war jedoch an der Sestina nicht bloß aus historischen Gründen interessiert. Bill 2.30 Sest. 2.45 30 Qin. 2 min Ausger. 1. 20 SFY. 3.20 = 12.25 3

    wurde. Von den so entstehenden zwölf Gruppen wurden je zwei so miteinander kombiniert, daß je zu jeder der 36 Zeilen des Gedichtes eine andere Ton- konfiguration zugeordnet werden konnte. Alle anderen seriellen Be- stimmungen, betreffend dynamische Werte, Dichte, Höhenlage der Töne, und vor allem Zeit und ihres Eintritts und Dauer wurden aus den Maßzahlen der Intervalle der Grundreihe errechnet. Jeden diese Da Indem die Zahlen anzeigen, wieviel Halbtonschritte die einzelnen Intervalle enthalten, steht meine Methode der Berechnung der des mir damals Amerikaner amerikanischen Komponisten Milton Babbit, näher als etwa der Stockhausens, die von den Verhältniszahlen der Tonhöhen ausgeht. Das Beispiel, das man jetzt hören wird, ist der Beginn eines instrumentalen Intermerzzos, das zwischen der letzten Strophe der Sestina und ihrem dreizeitigen Abgesang, der sogenannten Tonada steht. Es beginnt mit dem schnellsten der sechs Tempi des Stücks, aber mit der geringsten Dichte. Indem die Dichte zunimmt, weil mehr und mehr Tonkomplexe gleichzeitig ins Spiel kommen, wird diese Zunahme durch die proportional fortschreitende Verlangsamung des Tempos wettgemacht. Ex. 1

    Was ich an von dieser Passage an künstlerischer Wirkung ausgehen mag, ist dem Kontrast zwischen dem hauchartig dünnen Gewebe der isolierten Töne und den heftigen Schlagwerkeffekten zuzuschreiben. Diese explosiven Schläge sind jedoch nicht das Resultat einer sogenannten Eingebung, die mich veranlaßt hätte, diese Schläge dort hineinzukomponieren. Ihre genaue Stelle im Fluß des Ganzen, das Instrument, auf dem sie auszuführen sind, und der ihre Lautstärke war bestimmt durch die serielle Vorausbe- rechnung. Wenn diese Berechnung verlangt hätte, daß an dieser Stelle gar kein Schlagwerk, oder nur pianissimo Klänge anzubringen waren, so hätte die ganze Komposition einen anderen Charakter angenommen. Vielleicht ebenso wirkungsvoll und überzeugend - vielleicht auch nicht. Mein Vertrauen in den von mir in Bewegung gesetzten Mechanismus war gerechtfertigt - oder jedenfalls finde ich es gerechtfertigt. Als kontrastierende Illustration will ich noch die ersten, 10 zehn acht Takte des Werks zitieren, in denen durch eine radikale Ver- kürzung der grundlegenden Zeitwerte der höchste Dichtegrad erreicht ist. Ex. 2

    Das ist ein Beispiel jenes "neuen" Zufalls, den ich in meinem Gedicht beschwor. Es ist das Resultat der genauesten Vorausberechnung, und also streng genommen kein Zufall, jedoch ein infolge der Komplexität der Gesamtanlage unvorhersehbares Ereignis. 4

    Totale serielle Kontrolle obwaltet auch in meinem orchestralen Werk, das ich 1959 verfaßte, betitelt Quaestio temporis, auf deutsch: eine Frage der Zeit. Mit diesem Titel wollte ich aus- drücken, daß der gesamte musikalische Vorgang von den für dieses Werk aufgestellten Zeitbestimmungen bedingt war. Seine Gesamt- ausdehnung wird als aufgefaßt als bestehend aus elf Abschnitten, deren Länge den Maßzahlen der elf Intervalle der Tonreihe ent- spricht. Um die Zahl und Größe der in diesen Abschnitten enthaltenen Zeitsegmente und deren Unterteilung in kleinere und kleinste Zeiteinheiten zu bestimmen sowie die immer wieder benötigte bewegliche Wechselbeziehung von Konstanten und Variable zu erhalten, wurde ein Auszählverfahren entwickelt, in welchem Größenreihen von elf Elementen (der Zahl der Intervalle ent- sprechend) gegen ein Raster von zwölf (der Zahl der Töne ent- sprechend) abgerollt werden. Auch hier ergab sich eine Stufenfolge von sechs Dichtegraden und sechs Geschwindigkeitstufenzonen. Als Illustration bringe ich den letzten Abschnitt der Quaestio, in dem welchem die höchste größte Geschwindigkeit mit der größten Dichte kombiniert ist. Da die Zwölftontechniken hier in Zeiträumen neu Ex. 3

    Es ist klar, daß bei in dieser Kompositionstechnik die traditionellen Begriffe von Form, Thema, Durchführung, Variation und dergleichen keine Anwendung finden. Trotzdem heben sich aus dem Verlauf Zusammenhänge und Gestalten heraus, wie ich selbst beim Dirigieren oder Anhören des Werkes feststellen konnte, und andere Beobachter haben das bestätigt. Es ist leicht zu sagen, daß solche Beobachtungen eine freiwillige und zufällige Leistung von Hörern sind, die infolge ihrer Gewöhnung an die Tradition geneigt sind, Zusammenhänge sogar dort wahrzunehmen, wo sie nicht vor- handen sind. Jedoch der Schluß, daß Zusammenhänge nicht vor- handen sind, weil sie der Komponist nicht bewußt geschaffen hat, wäre vorschnell. Was immer die Die Beobachtungen der Hörer, was immer sein mögen, sie knüpfen sich an das, was der Komponist ihnen prä- sentiert hat, was immer es sein mag. Daß diese Kompositionsweise von dem, was man sich landläufig unter Komponieren vorgestellt

    5

    hat, radikal verschieden ist, liegt auf der Hand. wurde sie daher auch oft mit Empörung als ein widernatürlicher Aber- glaube, eine Versklavung an die Numerologie angegriffen. Ohne zu untersuchen, ob und was ein serieller Komponist glaubt, läßt sich sagen, daß alles, woran zu glauben jemandem nachgesagt, wird, von jemandem, der an etwas anderes glaubt, als Aberglauben bezeichnet werden kann.

    Das zeigt sich auch an dem Eindruck der Tempo- losigkeit, der dieser Musik eigentümlich ist. Wenn ich bei der Besprechung der Sestina und der Quaestio von Tempo und Geschwindigkeit erwähnt habe, so bedeutet das nicht, daß die Musik schnell oder langsam geht, sondern es bezeichnet ver- schiedene Dichtegrade in Bezug auf die Zeit- dimension. Das empfinden jene Kritiker, die sie ablehnen, weil sie statisch sei. Sie ist in sich bewegt genug, aber nicht wie ein Vehikel das einem Ziel zustrebt, sondern in sich selbst, wie die rotierenden Gebilde des Universums. Wegen ihrer Verantwortlicheit gegen des Zahlenwesen Die Musik hat keine Gerichtetheit wie die traditionelle Musik, sie schreitet nicht fort von Punkt zu Punkt und zu einem lo- gischen Ende wie ein Sprachwerk.

    Nach diesen Übungen in quasi-totaler serieller Determi- nation begann es mich zu interessieren, was bei teilweiser Lockerung der Kontrolle herauskommen würde. Ich führe hier eine kleineres Werk Arbeit Werk für zwei Klaviere an, die sogenannte Basler Maß- arbeit, geschrieben 1960. Sie ist so genannt, nicht nur, weil in ihr alles genau gemessen ist, sondern auch weil sie für zwei Freunde in Basel sozusagen nach Maß herge- stellt wurde. Das sind zwei Amateure, ein Griechisch-Professor und ein Chemiker, die gern auf zwei Klavieren zusammen- spielen, ohne technisch-professionellen, aber mit erheblichem intellektuellem Ehrgeiz. Es sind sechs ganz kurze Stücke, in denen die Reihe wieder rotationsmäßig abgewandelt wird. Die Zeitverhältnisse sind auch hier wieder von den Intervallzahlen abgeleitet, aber nicht so rigoros wie in den früheren Werken. Die Zeitsegmente sind in zwei ein bis elf Einheiten unterteilt, aber die von Stück zu Stück wirden die Synchronisation dieser Unterteilungen zwischen den beiden Klavieren immer komplizierter, so daß eine korrekte Auf- führung der Stücke ohne optisches Metronom kaum möglich ist. Hier ist nun Nummer 4 bis 6 der Basler Maßerbeit. Ex. 5

    wobei die Ver- teilung der jedem Segment zugeord- neten Töne inner- halb des Segments frei bleibt,

    Eine weitere Lockerung Die seriellen Organisation wurde weiterhin gelockert in der komischen Oper "Ausgerechnet und verspielt", die ich 1961 für das österreichische Fernsehen schrieb. Der Kontrast von totaler Determination und totalem Zufall ist hier ins Spielerische gewendet. Ein junger Mathematiker versucht, mit Hilfe einer elektronischen Rechenmaschine die Roulette zu be- siegen, u. zw. nicht durch Extrapolierung nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung, sondern durch totale Kontrolle aller Variablen, wie Masse, Dichte, Gewicht, Reibungskoeffizient der Maschinen, Luftdruck, Temperatur, Muskelkraft und Laune des Croupiers u. s. f. Im Verlauf seiner Erfahrungen wird er dahin belehrt, daß selbst die gewissenhaftesten Berechnungen dem Zufall eine Hinter-

    zukünfti- ger Re- sultate aus einer Unsumme statistischer Wahr- nehmungen 12 min. A 5a Ebenfalls in 1959 entstand das Flötenstück, neunphasig. Es hat in Wirklichkeit achzehn Phasen, da es aus zwei Teilen besteht, deren jeder neun Abschnitte aufweist. Der erste ist für Flöte allein solo, der zweite ist mit Klavier. Werden beide Teile nacheinander ge- spielt, so steuert das Klavier zum ersten Teil, dem Flötensolo, verschiedene diskrete Schlagzeug- effekte bei. Hier geht die serielle Gesamtanlage von zwei speziellen Vor- aussetzungen aus. Zunächst wird das Prinzip der Rotation so gehand- habt, daß die progressive Tonvertauschung sich auf stets anwachsende Gruppen von Reihentönen bezieht. Also z. B.: um die erste abge- leitete Reihenform zu erzielen, werden die ersten zwei Töne der Reihe rückwärts gelesen, dann die nächsten drei, dann die näch- the vier, und wenn die Originalreihe erschöpft ist, wird so fort- geschritten, als ob sie sich kettenhaft ins Unendliche wiederholen würde. Auf diese Weise entstehen Tongruppen, die untereinander eng verwandt sind, da sie technisch gesprochen sind es partielle, aber immer weiter ausgreifende rückläufige Formen sind, und doch niemals identisch. Ferner wurde eine Zeitordnung entwickelt, nach welcher Flöte und Klavier in gewissen gegebenen Zeiträu- men dieselbe Anzahl von Tönen produzieren, jedoch sind die der Flöte zugewiesenen Gebilde wesentlich schneller als die des Klaviers, da die Flöte, den Notwendigkeiten des Blasinstruments angepaßt, größere, natürlich und proportional berechnete Pausen hat. Infolge dieser Kompression des Tonmaterials nimmt der Flöten part von selbst jenen virtuosenhaften Charakter an, der der Idee dieses Projektes entspricht. Wiederum ergeben sich jene vorausbestimmten, aber unvorhergesehenen Überraschungen, wie etwa der langgehaltene C dur Dreiklang gegen Ende der Exzerpts, das ich jetzt vorführen werde, nämlich die ersten drei Phasen des zweiten, von Klavier und Flöte zusammen bestrittenen Teiles dieser Arbeit. Ex. 4a und kann allein für sich auf- geführt werden. 6

    tür offen läßt lassen und daß die Qualität des Unerwarteten dem System der totalen Determination eingebaut ist. Während er mit eiserner Energie die Zufälligkeiten des Roulettespiel durch wissenschaftliche Analyse zu bändigen bestrebt ist, wird sein Privatleben von allerlei unerwarteten Zufällen heim- gesucht. In der Musik ist natürlich das Höchstmaß serieller Kontrolle den Bestrebungen des Wissenschaftlers zugeordnet, so daß die in diesen Passagen der höchste Grad von scheinbarer Abwesenheit jeder Kontrolle erzielt wird. Andere Abschnitte sind mit dodeka- phonischer Musik von wechselnden Abstufungen organisatorischer Strenge versehen. Als Beispiel will ich ein Intermezzo aus dieser Oper vorführen. Hier ist wiederum der ganze Verlauf in Segmente eingeteilt, die ihrerseits aus Zeiteinheiten bestehen, deren Zahl deren Länge den Größen der in der grundlegenden Tonreihe aufeinander folgenden Intervalle, also von eins bis elf, entspricht. Wiederum sind von dieser zentralen Tonreihe durch verschiedene Rotationsverfahren andere, ver- wandte Reihen abgeleitet. Da nun in jedem Segment je eine dieser Reihenformen abgespielt wird, ergibt sich, daß die Dichte des Gefüges zwischen den kürzesten Segmenten, in denen alle zwölf Töne immerhalb einer halben Sekunde gespielt werden müssen, und den längsten, wo dafür fünfeinhalb Sekunden zur Verfügung stehen, erheblich variiert. Die Töne selbst sind auf die im Zwischenspiel verwendeten Instrumente aufgeteilt, nämlich zwei Klaviere, Celesta, Harfe, Gitarre, Vibraphon und andere Schlaginstrumente, die Zeitpunkte, an denen die Töne innerhalb des Segmentes gespielt werden sollen, sind die jedoch nicht genau fixiert. Die Spielen haben sich nur allgemein nach einem Früher oder Später, gelegentlich auch nach einem Zugleich im Bezug auf die anderen Spieler zu richten. Wir werden jetzt die zweite Hälfte dieses Intermezzos hören. Ex. 6

    neu p. 3 Diese Zeit- einheiten sind alle gleich lang, nämlich je eine halbe Sekunde.

    Das improvisatorische Element, das in der letzten Entwicklung der neuen Musik eine so erhebliche Rolle spielt, ist eingebaut in eine spätere, auf Tonband realisierte Komposition. Sie ist 1962 entstanden und hat den Titel San Fernando Sequence, weil ich die meisten Auf- nahmen und Synchronisationen im elektronischen Studio des staat- lichen College von San Fernando Valley in Californien durchführte.

    17 min. (Text) 7

    In den meisten wie es heißt, aleatorisch so konzipierten Kompositionen der letzten Jahre ent- hält das den improvisatorischen Prozeduren überlassene Gebiet gewisse Freiheiten, die dem Interpreten in der Darstellung des vom Komponisten gelieferten Textes gewährt sind. Der Komponist stellt eine Sammlung von mehr oder weniger scharf definierten Klang- materialen her, und wobei worauf dem Spieler vielfach die Wahl zwischen verschiedenen Reihenfolgen dieser Blöcke und oft auch Artikulationsweisen inner- halb der Blöcke gelassen freigestellt wird. Bei einer auf Tonband fixierten Komposition kann das Improvisatorische sich natürlich nicht auf die Ausführung beziehen, da diese ja ein für alle mal festgelegt ist. Ich habe in diesern Arbeit beim Komponieren improvisiert, indem ich eine nicht allzu konkrete, mehr umrißhafte Gesamtgestalt nach und nach mit Inhalt füllte wie einen Rahmen, der die Ge- samdisposition eines Gemäldes bestimmt, ohne alle Details im vorhinein festzulegen.

    Die San Fernando Sequenz besteht etwa zur Hälfte aus elektro- nischen Klängen, die von Sinus-, Rechteckwellen- und Rauschgeneratoren bezogen wurden, und aus einer größeren Anzahl instrumentaler und Geräuschklänge, die durch Mischung und Manipulation der Bänder nach Art der musique concrète behandelt wurden. Zunächst wurde ein Depot elektronischer Klänge angelegt. Aus ihm wurden dann einzelne Elemente oder Gruppen ausgewählt und an das wesentlichen Punkten des umrißhaft erschauten Gesamtkonzepts angebracht. Sodann wurde stufenweise mit der Ausfüllung offener Flächen, mit der Bereicherung und Ausarbeitung der Details durch Superimposition neue zusätzlicher Klänge, Synchronisation schon vorhandener Klangschichten u. s. w. fortgeschritten. Es läßt sich also auch hier sagen, daß die Komposition eher als ein statisches, räumlich defi- niertes Gebilde angeschaut ist denn als eine Fortbewegung von sich entwickelnden Gestalten in der Zeit.

    Das Zentralstück der Komposition widerspricht dieser Auf- fassung nur scheinbar, indem es technisch als ein vierstimmiger Kanon betrachtet werden kann. Hier wurde eine Klangfolge von bestimmten Länge konstruiert und aufgenommen und sodann mit drei anderen Schichten synchronisiert, in welchen dieselbe Folge sowohl in drei verschiedenen Geschwindigkeiten als auch rückläufig abge- spielt wurde. Die Ein Zeitpunkte der Eintritte der diveren Schichten wurden so gewählt, daß die durch ihre Kombination entstehenden

    8

    verschiedenen Dichtephänomene an den im Gesamtbild vorgesehenen Stellen auftreten würden. Die zugrunde liegende Klangfolge ist jedoch nicht als Melodielinie im Sinn der traditionellen Kanontechnik zu betrachten. Sie besteht aus isolierten elektronischen und Instrumental- klängen, die deren weitgestrecktes Spektrum von Tonfarben durch die Veränderung der Geschwindigkeit und die Rückläufe weiteren Var Variationen unterworfen ist. Man hört jetzt die soeben beschriebene kanonische Sequenz und die darauf folgenden Klangkombi- nationen, die den letzten Abschnitt des Werkes einleiten. Ex 7 6

    Mein jüngstes Abenteuer ist eine abendfüllende Oper, die ich als Auftragswerk für die Hamburgische Staatsoper letztes Jahr vollendet habe. Sie heißt "Der goldene Bock" und beschäftigt sich mit jenem Widder, dessen Haut als Goldenes Vließ durch die Jahrtausende uner- schöpflichen Anlaß zu dramatischer Gestaltung gegeben hat. Die alte Sage, die schon in der antiken Welt in unzähligen Variationen Varianten unterworfen verbreitet war, ist hier wiederum anders gefaßt und in die Atmosphäre des sogenannten absurden Theaters gerückt. Der goldene Bock, Chrysomallos genannt und von Nephele geschaffen, um ihre Kinder, Phrixos und Helle, in Sicherheit zu bringen, fliegt weiter als vorgesehen, und landet weit draußen, in Amerika, unter den Indianern, 4000 Jahre später. Madea ist ein prähisto- rischer Drache, der durch Jasons Liebe in ein Menschenwesen ver- wandelt wird. Wenn Jason sich von ihr abwendet, um sich neuen erotischen Interessen zu widmen, kehrt Drachennatur in sie zurück. Nicht nur verkocht sie Jasons Onkel Pelias in einem riesigen Hexenkessel, sondern frißt auch ihre eigenen Kinder. Jason wird aus Amerika nach Griechenland ausgewiesen und im Hades mit seiner Familie vereinigt, die in der Vorhölle sitzend seine endliche Rückkehr erwartet hat. Ein chorus mysticus sagt: Ihr habt keine Zeit, weil es keine mehr gibt. Zeit verging als Geschichte geschah, bedrohliche Wolkenschicht. Den sehnlich be- gehrten Sinn verschiebt verdunkelndes Wort. Jetzt kam abhanden. Nie wirds verstanden. Vergangen ist Zeit, seit nichts mehr geschieht Die Wolke durchbricht das schweigende Licht. Der Sinn ist da, man sieht, doch braucht ihn nicht.

    29 min Text p. 5 9

    Dem Kenner - wenn es einen solchen gibt - wird auffallen, daß die Verwandtschaft dieses Vokabulars mit dem der Sestina auffallen. Sie beruht auf der Präokkupation mit Raum und Zeit, die auch der wesentliche Impuls zur vorliegenden Neufassung der Argonautensage war. Da wir nun schon beim Autobio- graphischen halten, darf ich mich daran erinnern, daß ich schon vor über 30 Jahren, als ich mich mit dem Leben des Orest be- schäftigte, daran dachte, den von der griechischen Heimat vertriebenen Wanderer ins heutige Amerika zu bringen. Möge jemand anderer versuchen, die geheimen Motivationen auf- zudecken, die sich hinter diesen scheinbar fixen Idee verbergen.

    Mir selbst genügt es, daß die Musik dort, wo über Zeit und Raum gesprungen wird, seriell am genauesten durchorganisiert ist, während im übrigen wiederum zwölftönige Fügungen weniger gebundener Natur vorwalten. Wie man sieht, habe ich mich in dieser Hinsicht keiner fixen Idee verschrieben. Ob das zu meinen Gunsten spricht oder mich in irgendeiner Weise be- lastet, muß ich dem Urteil der Mit- und Nachwelt überlassen.

    Musik 14 1/2 min. 24/38 11.18 11.42 24

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Krenek, über eigene Werke

    Untertitel

    [Vortrag für eine Radiosendung des WDR]

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    10

    Signatur

    LM-181-02

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Serielle Musik
    Back to Top