Ockeghem

Abstract

Ausgehend von dem Vorwurf der Intellektualität und der mathematischen Berechnung, den vom Publikum öfters gegen Werke von Krenek, Schönberg und anderer zeitgenössischer Komponist:innen erhoben wurde, befasst sich Krenek in dem Vortrag für den Bayerischen Rundfunk (Sendedatum: 2. November 1966) mit dem franko-flämischen Komponisten Johannes Ockeghem.

Krenek geht auf die Rezeptionsgeschichte ein, auf die negativen Wertungen, die Ockeghem von Musikschriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts zuteil wurden, und ihn tatsächlich mit Schönberg verglichen. Krenek geht auf kompositorische Besonderheiten Ockeghems ein, aber auch auf die musikästhetischen Ansprüche des späten 15. Jahrhunderts, für die eben der im 19. und 20. Jahrhundert so vermissten „Ausdrucksgehalt“ von Musik keine relevante Kategorie war.

    Bayr. Rdf Ockeghem

    Den zeitgenossischen Komponisten, vor allem jenen, die sich der von Schönberg und seinem Kreis entwickelten atonalen Tonsprache be- dienten und sich der Zwölftontechnik zu- wandten, wurde fast gewohnheitsgemäß vor- gehalten, daß ihre Musik intellektuell er- klügelt, mathematisch berechnet und daher menschlicher Wärme und gefühlshafter Aus- druckskraft bar sei - beides Eigenschaften, die die Musik der alten Meister so ansprechend und wertvoll machen. Da der Vorwurf der Intellektualität oft genug auch gegen meine Kompositionen erhoben wurde, war ich er- staunt, aber auch etwas getröstet, als ich im Lauf meiner vor allem in meinen amerikanischen Universitäsjahren betriebenen historischen Studien einem alten Meister begegnete, gegen den genau dieselben Einwendungen erhoben wurden. Es war der flämisch-burgundische Komponist Johannes Ockeghem, der von etwa 1430 bis etwa 1495 lebte. Daß seine Geburtsdaten nicht mit Sicher- heit festzustellen sind, teilt er mit anderen großen Männern alter Zeiten, denn als er in einem obskuren Dorf in Ostflandern zur Welt kam, wußte man nicht, daß er ein großer Mann werden würde, und nahm keine Notiz davon. Etwas ungewöhnlich ist,

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    daß nicht einmal sein Todesjahr feststeht, da er am Ende seines Lebens nicht nur als Komponist weit bekannt und hochverehrt war, sondern als Hofkapellmeister des Königs von Frankreich und als Schatzmeister der St. Martins-Abtei in Tours eine bedeutende Rolle im öffentlichen Leben spielte. Da eine später erschienene Trauerode zum Andenken des großen Mannes andeutete, daß er bis gegen hundert Jahre alt wurde, haben manche Gelehrte ihn bis gegen 1510 leben lassen. Neuere Forschung hält das für unwahrscheinlich. Vielleicht konnte man seine Lebensdaten von dem Denkmal ablesen, das in Tours für ihn errichtet worden sein soll. Aber auch dieses ist verschwunden.

    So wie die Geschichte die Lebensumstände eines zu Lebzeiten seiner Zeit augenscheinlich hochangesehenen und wohl be- rühmten Mannes schnell mit den Schleiern der Ver- gessenheit vernebelt hat, so hat die Musikgeschichte seiner Reputation übel mitgespielt. In den ton- angebenden Musikgeschichten des letzten hundert Jahre neunzehnten und angehenden zwanzigsten Jahrhunderts wird er meist als rein intellektueller Komponistnstrukteur abgetan, der sich sein zeitlebens lang mit sterilen kontrapunk- tischen Spielereien abgegeben habe. Um nur ein Beispiel zu zitieren: Der englische Musikhistoriker Cecil Gray nennt Ockeghem "für die Musik das typischeste Be Exempel eines Künstlers, der ... darauf aus ist, Schwierigkeiten schafft nur weil es ihm Vergnügen macht, sie zu überwinden. Ausdruck war für ihn wenn überhaupt, von untergeordneter Bedeutung. wenn er für ihn überhaupt Er Er scheint etwas von der Mentalität Arnold Schönbergs

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    gehabt zu haben, dieselbe rücksichtslose Gleichgültig- keit gegen bloß sinnliche Schönheit... er ist der Schulmeister, der Exerzierfeldwebel der Musik." Soweit Cecil Grays harte Worte. Aber er steht mit solchen Ansichten keineswegs allein. Viele dieser Urteile scheinen auf den deutschen Musikhistoriker Kiesewetter zurückzugehen.

    Man muß sich fragen, worauf diese kategorischen Verurteilungen begründet sind. Bis zu unseren Tagen war nämlich von Ockeghems Musik kaum mehr bekannt als ein paar Fragmente, die als Beispiele in Lehrbüchern der Musiktheorie weitergeschleppt wurden. Erst 1912 wurde erschien ein erhebliches Quantum dieser Musik, zugänglich als die in den Denkmälern der Tonkunst in Österreich einige in den Codices von Trient entdeckte Messen von Ockeghem erschienen. 1927 kam der erste Band der von Dragan Plamenac besorgten Gesamtausgabe heraus, dem weitere Bände jedoch erst gegen 1956 von 1947 an folgten. Es muss zugegeben werden, daß sich seither das Da kaum anzunehmen ist, daß die früheren Geschichtsschreiber abgelegene Archive durchstöberten, um durch Inspektion der Original- quellen zu ihren absprechenden Urteilen zu gelangen, müssen sie sich auf irgendwelche anderweitige Information bezogen haben.

    Wir sind zur Vermutung gekommen, daß einer der wichtigsten Faktoren in der Entstehung des überlieferten Ockeghem- Bildes eine Äußerung, die der des Schweizer Theoretikers Heinrich Glareanus in seinem berühmten, 1547 in Basel erschienenen Dodekachordon untergebracht hat. Dieses mit ebensoviel Gelehrtenphantasie

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    wie angriffslustigem Temperament geschriebene Buch erfreute sich großer Popularität und hatte zweifellos großen erheblichen Einfluß auf das Musikdenken der Zeit, da es zum ersten Mal eine Theorie darbot, die welche die in der zeit- genössischen Musik sich vollziehende Wendung zur modernen Tonalität als eine logische Entwicklung des mittelalterlichen modalen System erklärte. Das Dodekachordon ist aber nicht nur eine theore- tisches Abhandlung, sondern es enthält auch eine Sammlung von Musikbeispielen, ausgewählt aus der Literatur der vorangegangenen hundert Jahre etwa, um die neue Theorie zu unterbauen. Da gibt es auch ein kurzes Exzerpt aus Ockeghem (etwa achzig Jahre früher geschrieben komponiert), dem Glareanus neben ein paar lobenden Worten die folgende Notiz widmet: "Es ist eine ausgemachte Tat- sache, daß Ockeghem ein gewisses Gezwitscher für sechsunddreißig Stimmen komponiert hat, welches wir freilich nicht gesehen haben. Zumindest war er bewundernswert wegen seiner Erfindungsgabe und Geistesschärfe." Ohne Zweifel hat diese Notiz dem armen Okeghem den Ruf eines Papierkomponisten eingebracht. Wenn schon Glareanus sich nicht die Mühe nahm oder nicht in der Lage war, das kontrapunktische Gezwitscher zu inspizieren, oder so haben waren spätere Historiker gewiß in keiner besseren Position. Aber da man wußte, daß Ockeghem ein paar andere staunenswerte Kunststücke hinterlassen hatte, so war ein Gesamturteil schnell fertig, wie wenig es auch begründet gewesen sein mag.

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    Das "Gezwitscher" war in der Tat sehr schwer zugänglich, da es nirgends separat abgedruckt, sondern nur als Musikbeispiel in abgelegenen theoretischen Papieren zu finden ist. Es handelt sich um einen sechunddreißigstimmigen Kanon, ein tour de force, wie er damals auch von an- deren Komponisten als Fleißaufgabe prakti- ziert wurde. Das Kuntstück sieht schwerer aus als es ist, denn auf Grund der da der damalige Stil nur eingie wenige konsonante Intervalle da sich der Komponist auf die nach dem damaligen Gebrauch zulässigen harmonischen Kombinationen beschränken mußte, können sich die Stimmen des Kanons fast nur in zerlegten Dreiklängen bewegen, und wenn sie einander sechsunddreißigfach imi- tieren, ist das praktische Gesamtergebnis Endergebnis ein endlos ausgehalter Dreiklang.

    Das bedeutentenste Werk Ockeghems, das Eine weitaus schwierigere Aufgabe hat sich Ockeghem in einem seiner bedeutendsten Werke ge- stellt, in der Missa Prolationum. Hier Alle Teile dieser Messe sind kanonisch durchgearbeitet, d.h. die vier Stimmen bringen dasselbe melodische Material, setzen jedoch in Imitation nach ein- ander ein. Manchmal liegt ein Doppelkanon vor, d. h. je zwei Stimmen präsentieren zwei ver- schiedene Kanons gleichzeitig. Das Glanzstück kon- trapunktischer Hexenkunst sind die Mensural- kanons. Hier setzen zwei Stimmen mit demselben Material gleichzeitig ein, die schreiten jedoch in

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    verschiedenen Geschwindigkeiten fort, wobei das Tempo der einen Stimme in einer genau durchgehaltenen Proportion zu dem der anderen steht. Es ist natür- lich außerordentlich schwer, die beiden Stimmen so zu führen, daß die zwischen ihnen entstehenden Inter- valle trotz der immer ständig zunehmenden zeitlichen Divergenz den Konventionen des damaligen Stils entsprechen, und noch schwerer, dafür zu sorgen, daß das Gebilde nicht steif und pedantisch wirkt, sondern musika- lisch lebendig bleibt.

    Ein anderes Werk, das einen hohen Grad kontrapunktischer Meisterschaft verrät, ist die sogenannte "schlüssellose" Messe, Missa cuius- vis toni, oder Messe in beliebiger Tonart. Dieses Kunststück ist in gewissem Sinn verwandt mit den Bestrebungen der allerneuesten Musik, in welcher der Komponist dem Interpreten eine Reihe von Möglichkeiten zur Auswahl vorlegt. Die schlüssellose Komposition des fünfzehnten Jahrhunderts stellt die gibt Ausführenden ist freilich vor bedeutend schwierigere Aufgaben, da von den offen gelassenen Möglich- keiten nur einige wenige annehmbar sind, weil nämlich jene die nach den anerkannten Regeln korrekt sind. Hier hat der Sänger ein Notenblatt mit den normalen Noten vor sich, aber die Zeilen haben keinen Schlüssel vorgezeichnet, so daß die absolute Tonhöhe der vorhandenen Noten nicht ersichtlich ist. Ein Schlüssel muß von den Inter- preten gewählt werden, aber da die Komposition

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    mehrstimmig ist, muß die Auswahl für die ver- schiedenen Stimmen so koordiniert werden, daß das Resultat "stimmt". Man darf die technischen Kenntnisse und die Geschicklichkeit der damaligen Interpreten mit Fug und Recht bewundern, wenn ihnen die Lösung solcher Rätsel zugetraut werden konnte.

    Dabei war die spätmittelalterliche diese Chormusik auch ohne solche Schikanen schon wegen ihrer ungeheuren rhythmischen Komplexität schwer genug auszuführen. Das so- genannte Mensuralsystem, das die rhythmische Organi- sation der mittelalterlichen Polyphonie beherrscht, ist ein von dem modernen grundsätzlich verschiedener Mechanismus der musikalischen Zeitmessung. Es be- ruht auf der Vorstellung von drei Schichten, die wie konzentrische Plattformen in einander liegen. Die innerste bewegt sich langsam, d. h. sie hat die längsten Zeitwerte. Sie heißt modus. Die nächste, Tempus genannt, hat je drei Zeitwerte für jeden des modus, was tempus perfectum heißt, oder zwei, und das ist imperfectum. Die schnellste ist die dritte, äußerste Schichte, prolatio, die wiederum zwei oder drei Werte für jeden des tempus hat. Alle Kombinationen von perfekt und imperfekt sind zulässig. Der Hauptunterschied gegenüber dem neueren Musik- denken besteht darin, daß die Akzente nicht wie in diesem syste- m auf regelmäßig wiederkehrende "gute" Taktteile fallen, sondern sich völlig aus der Arti- kulation der einzelnen Melodielinien ergeben, indem hohe und lange Töne automatisch hervor- treten, wo immer sie in dem komplizierten Gewebe placiert sein mögen. Es gibt also keine Takte

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    in unserem Sinn, und daher auch keine Taktstriche. Jeder Sänger folgt seiner individuellen Tonlinie, ohne zu wissen, wo die anderen sind. Und es gibt auch keine Partitur, nach welcher der Dirigent den Vorgang verfolgen und Einsätze geben könnte. Er kann nur den Fluß der Zeiteinheiten markieren, wobei heute angenommen wird, daß das Standardtempo dieses Flusses etwa bei 72 Einheiten per Minute lag, dem normalen Puls- schlag entsprechend.

    Der Denkweise des Mittelalters nach was dieses gab es keine anderen Tempi, das einzige sondern nur Abwei- chungen vom allgemeingültigen Grundtempo. Diese mußten in Proportionen ausgedrückt werden. Das heißt, wenn das Grundtempo 72 Einheiten per Minute hatte und der Komponist einen schnelleren Fortgang wünschte, der metronomisch etwa 108 Schlage per Minute erforderte, so mußte er einen Bruch "drei über zwei" einschreiben, der dem Sänger angab, daß in der dem Bruch folgenden Passage drei Noten in derselben Zeit zu singen waren, die vor dem Bruch von zwei Noten desselben Wertes beansprucht wurde. Wir nennen das heute eine Triole. Es gab aber weit kompliziertere Proportionen als diese zwei zu drei. Die Theoretiker gefielen sich darin, ihre Hand- bücher mit ganz haarsträubenden Kombinationen zu füllen. Da nun der Tempowechsel nicht in allen Stimmen gleichzeitig aufzutreten hatte, ergaben sich zusätzliche, und kaum vorstellbare Schwierigkeiten für Sänger, die sich an keine Takteinteilung anklammern konnten. Die Mensuralkanons der

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    Missa Prolationum beruhen auf solchen Proportionen, obschon, wie überhaupt in praktischer Musik, nur die einfacheren Bruchzahlen verwendet wurden. In dem Titel dieser Messe bezieht sich übrigens das Wort prolatio auf dieses Proportionswesen, nicht auf die früher erklärte schnellste Schichte der Mensuralzeitmessung.

    Ein anderer aparter Titel Ockeghems ist die lautet Missa Mi - Mi. Dahinter verbingt sich nichts weiter als daß das alle Teile mit der melodischen Fortschreitung E - A beginnen. Im Mittelalter hat man als Grundgerüst des Tonmaterials im Anschluß an die altgriechische Theorie drei Hexachorde angenommen, d. h. Sechston- skalen, von denen eine auf C, die andere auf F, und die dritte auf G begannen. In allen dreien wurden die Töne mit ut, re, mi, fa, sol, la bezeichnet. Dem- zufolge ist unser E ein mi im der ersten Hexachord, und unser A ein mi im zweiten. Das damit ange- deutete Hin- und Herschwingen der Musik zwischen den beiden Hexachorden ist für unsere Ohren na- türlich nicht sehr auffallend.

    Viel eindringlicher kommt solches Hin und Herschwingen Bewegung zum Vorschein, wo Ockeghem die Musik von einer zwischen kontrastierenden harmonischen Farbwerten abwechseln läßt, wie etwa in der Messen Missa Caput. und Serviteur, und In diesen Hinsicht Belangen ist seine Ockeghem's musikalische Vorstellung sehr fortschrittlich, indem sie auf viel spätere Entwicklungen hinweist. Solchen Zügen stehen im Widerspruch zur Musiktheorie seiner Zeit, da sie ein viel freizügigeres Verhalten gegenüber den Problemen der Dissonanz zur Folge haben zeigen

    Hier bewegt sich der Cantus firmus, d. h. die aus dem Gregorianischen Gesang stammende Grundmelodie des Werkes so zwischen G und D, daß häufige Halte- punkte auf dem Ton H entstehen. Dieser Ton war nach den damaligen theoretischen Prinzipien als tiefster Ton eines mehrstimmigen Gefüges nur mit größter Vorsicht zu verwenden gebrauchen, da er keine reine Quinte über sich hat. F Der Ton F ergibt die verminderte Quinte H-F, die als tritonus diabolus in musica für als für besonders bedenklich ge- halten wurde. Darum legt Ockeghem's Vorgänger Dufay, der denselben Cantus verwendete, diesen in eine Mittelstimme, so daß er das verdächtige H immer irgendwie unterbauen kann. Ockeghem verschmäht diesen Ausweg und legt den Cantus in den Baß, unbekümmert um die so entstehenden Schwierig- keiten. Im Gegenteil, er nützt diese aus, um die Musik zwischen den klar definierten harmonischen Feldern hin und her der hellen G-Klänge und der düsteren D-Akkorde hin- und herschwingen zu lassen, wobei der melancholisch hohle Klang der vermind auf dem A errichteten Tongruppen eine aparte Zwischen- station bildet. Ähnliche Situationen ergeben sich in der Missa Serviteur, wo der Cantus auf knappem Raum von C zu D hinüberwechselt. ohne Einführung chroma- tischer Veränderungen Man ist erinnert an die optischen Effekte der goti- schen Architektur, wenn in den zwei- oder dreifachen Arkarden, die eine Apsis im Halbkreis umlaufen, die sich von innen nach außen spreizenden Säulenstellungen fortwährend wechselnde Perspektiven der sich kreuzenden Gewölbelinien zur Ansicht bringen sieht. man beim Durchschreiten einer der 10

    als das von den Theoretikern empfohlene, die schon auf die gemäßigte Eleganz des Palestrinastils hinarbeiteten. Ihnen erschien Ockeghem überholt und altmodisch, da er an der undisziplinierten Rauheit des gotischen Stils festzuhalten schien, während der Haupt- strom der Musik sich auf die wohlausgewogene Ausgeglichenheit der Renaissance hinbewegte. Uns, die wir am Ende jener Entwicklung stehen, die die Dissonanz aus den ihr von der Renaissance auferlegten Fesseln befreit und in dreihundert Jahren zur heutigen, völlig emanzipierten Tonsprache geführt hat, dünkt Ockeghem keineswegs rückständig, sondern bedeutend fortschrittlicher als viele seiner Zeitgenossen.

    Das ist nicht nur auf seine unorthodoxe Behandlung der Dissonanzen zurückzuführen, sondern vor allem auch auf viele Cha- rakterzüge seines gesamten Kompositionsstils. Dazu gehört zunächst eine eigentümliche Ruhelosigkeit, die den einmal in Gang ge- setzten musikalischen Verlauf zu keinem auch nur vorübergehenden Stillstand zu kommen läßt, bevor das im Wesentlichen vom Verbrauch des zugrundeliegenden Textes diktierte Ende erreicht ist. Eine andere Eigentümlichkeit von Ockeghem's Stil,

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    die ihn dem modernen Empfinden näher bringt, ist das plötzliche Auftreten von wirbelartigen Turbulenzzentren in einem langgedehnten, Strom ruhiger melodischer Linien.

    Es ist eigenartig, daß jene strenge kanonische Imi- tation, um derentwillen er in Verruf geraten ist, außer in den erwähnten drei oder vier Stücken fast gar nicht an- wendet. Wir haben seine Musik stets ausdrucksvoll und eloquent gefunden, obgleich was natürlich den auf sub- jektiven Eindrücken beruht. Wir haben keine Ahnung, wie diese äußert komplizierte Musik auf die dama- ligen Hörer wirkte. Es ist durchaus möglich, daß das Element des emotionellen Ausdrucks, das seit der Renaissance bis zum heutigen Tage als wesentliche Daseinsberechtigung jeglicher Musik betrachtet wurde, damals überhaupt keine Rolle spielte. Jedenfalls wird es in den theoretischen Ab- handlungen des Mittelalters überhaupt nicht niemals er- wähnt. Man kann sich denken, daß solche Musik viel- leicht nicht im Hinblick auf irdische Hörer, sondern als Opfergabe für Gott geschrieben worden sein mag. Die Frage nach dem Ausdrucksgehalt von Ockeghem's Musik ist heute nicht mehr so wichtig, da es uns klar ge- worden ist, daß die Bedeutung eines Komponisten auf anderes gegründet ist, als was verschiedene Hörer zu verschiedenen Zeiten in seine Musik hinein- oder aus ihr herauslesen zu können glauben.

    Ockeghem, den Kiesewetter den "für seine Zeit maßgebenden Altmeister des durchimitierenden a capella Stils" nennt niemals trocken oder pedantisch, sondern

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Ockeghem

    Untertitel

    [Vortrag für den] Bayrischen Rundfunk

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    12

    Signatur

    LM-148

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Musikgeschichte, Musikalische Analyse
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