[Aus Franz Schuberts letzter Schaffensperiode. Chronologie und Analyse des Streichquartettes Nr. 15, G-dur, op. post. 161, D 887]

Abstract

Für eine Radiosendung (November 1973) des Südwestfunks in Baden-Baden, analysierte Ernst Krenek Schuberts letztes Streichquartett. Unter äußerst dichter Illustration durch Beispiele beschreibt er harmonische und formale Details des Werks und schließt den Vortrag mit bewundernder Anerkennung von Schuberts „schlechthin unbegreiflichen“ Arbeitstempos.

    Schubert, Streichquartett G dur, op. 161

    Man verbindet mit Franz Schubert gewöhnlich die Vorstellung von dem Veilchen, das im Verborgenen blüht - ein mit seinem Los zufriedener, meist heiter, oft auch sentimental veranlagter Mensch, der mit ungeheurem Fleiß und in großer Eile riesige Quantitäten gefälliger Musik herstellte, die einem kleinen Freundeskreis viel Spaß machte. Es kann gefragt werden, ob dieses image nicht aus dem Bedürfnis nach einem Gegenbild zu dem titanischen Beethoven entstand, der mit seinem Los alles andere als zufrieden war und sich eher grimmig und dramatisch gebärdete. In Wahrheit war Schubert, wenn sein Werk auch zu seinen Lebzeiten nicht so globale Resonanz hatte wie Beethovens, doch ein wohlbekannter und sehr geschätzter Komponist. Über die Aufführungen seiner Werke in Wien liest man überschwängliches Lob. Sie werden als unvergeßlich und zauberhaft bezeichnet.

    Umsomehr mag man sich wundern, daß viele seiner bedeutendsten Arbeiten, die die Nachwelt bis heute mit staunender Bewunderung erfüllen, zu seinen Lebzeiten überhaupt nicht oder nur beiläufig und bruchstück- weise aufgeführt wurden. So erging es auch seinem fünfzehnten und letzten Streichquartett in G dur, dem später völlig willkürlich die Opusnummer 161 ge- geben wurde. Bekanntlich haben bei Schubert die Opusnummern nichts mit der Chronologie seines Schaffens zu tun und sind total irreführend. Viel sinnvoller ist die Numerierung des Otto Erich Deutsch Katalogs, in welchem dieses Quartett die respektgebietende Zahl 887 trägt.

    Das Quartett, aus Schuberts letzter Schaffensperiode stammend - er schrieb es zwei Jahre vor seinem Tod - zeigt nicht nur seine Erfindungsgabe und technische Virtuosität in der Ausnützung der harmonischen und modulatorischen Möglichkeiten der überlieferten Tonsprache auf dem Höhepunkt, sondern es verrät

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    auch, daß seine Phantasie über die Grenzen des Gegebenen in neue Bereiche vorstieß. Gleich in den ersten Takten er- eignet sich jener kühne Wechsel von Dur nach Moll, der zum bewegenden Prinzip für die ganze riesige Struktur des ersten Satzes wird. Der durch zwei Takte ausgehaltene G dur Drei- klang wechselt unvermittelt in den g moll Akkord. 1 I 1 - 3 (I. V.)

    Erst Gustav Mahler hat diesen jähen Wechsel des Modus wieder aufgenommen und zum Grundstein seiner VI. Sym- phonie gemacht 2 Mahler, VI.

    Der Prozeß wird sogleich wiederholt mit dem Dominant- akkord: D dur wechselt zu d moll. 3 6 - 8 (I. V.)

    Das bedeutungsvolle Element in diesem Wechsel ist der ab- steigende Halbtonschritt: von h nach b, im Dominantklang von fis nach f. Er wird an den entscheidenden Gelenk- stellen des Satzes immer wieder wirksam gemacht. Hören wir nun, wie Schubert diese kühne Geste fortsetzt. 4 1 - 10

    Der zackige Rhythmus wird sogleich benützt, um die abrupte Anfangsgeste in ein weitgedehntes erstes Thema fortzuspinnen. 5 15 - 33 (I. V.)

    Das chromatische Element erscheint jetzt in der Baßlinie und unterbaut die für dieses Werk so charak- teristische absteigende Dreiklangsfolge G dur, F dur, Es dur, D dur. In der sogleich folgenden Variante wird nun das Element der chromatisch herabrutschenden großen Terz des Dur-Dreiklangs nicht mehr benützt, um in den gleichnamigen Moll-Akkord zu gleiten, sondern um direkt in die eben geschilderte absteigende Drei- klangsfolge zu gelangen. 6 33 - 42 (2. V.)

    Zum Abschluß dieses thematischen Komplexes hört man die Grundtonart G dur energisch bestätigt durch eine dreimalige Wiederholung des hüpfenden Rhythmus. 7 51 - 54 (Anfang)

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    Daran schließt sich nun, als Überleitung zum zweiten Thema, wieder das chromatische Abgleiten durch den Moll-Dreiklang zum Dominant-Akkord, diesmal eine absteigende Sequenz, die überraschenderweise auf Fis-dur zum Stillstand kommt. 8 54 - 63

    Das ist überraschend, weil der Tradition zufolge das zweite Thema in der Dominant-Tonart zu erwarten ist, also hier in D dur, und in diesem Fall die Zwischenkadenz, die es ankündigt, gewöhnlich zur Dominante dieser Tonart führt, hier also A dur. Das zweite Thema steht tatsächlich in D dur, und wieder wird das chromatische Abgleiten benützt, um die Situation, die sich durch das zu weit gehende Gefälle der Überleitung ergeben hat, einzurenken. Das Ais des Fis dur Klangs wird zum A der D dur-Dominante herabgezogen, und die leicht auf und nieder schwingende Linie des zweiten Themas nimmt ihren Anfang. 9 64 - 76 (1. Hälfte)

    Die kleine melodische Floskel, die das Thema abschließt, erinnert in ihrer rhythmischen Gestalt an die höpfende Figur am Ende des ersten. 10 74 (2. Hälfte) - 76 (1. Hälfte)

    Indem auch diese Floskel dreimal erscheint, wird der Zusammenhang zwischen den an sich kontrastierenden Themengruppen diskret betont. Die dreimalige Wieder- holung fällt besonders auf, da, um sie unterzubringen die letzte des aus drei viertaktigen Phrasen be- stehenden Themas auf fünf Takte ausgedehnt werden. mußte. 11 Wiederholung von 9, mit Zählen

    Die nächste Überraschung ist, daß abweichend von überlieferter Prozedur das ganze zweite Thema viermal gebracht wird. Zunächst wird es in D dur wiederholt, wobei die erste Geige eine leichte, sozusagen Koloratur-Ober- stimme beisteuert. 12 77 (2. Hälfte) - 90 (1. Achtel)

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    Es folgt eine ausführliche Überleitung, die in ihrer harmoni- schen Bewegtheit schon etwas Durchführungscharakter trägt. Sie führt zwar zum D dur Dreiklang zurück, aber die Art seiner Einführung läßt ihn als Dominante von G er- scheinen. 13 90 - 108

    Darauf folgt der dritte Vortrag des zweiten Themas, diesmal in B dur, in einer Variation für Cello solo, mit pizzicato der anderen Instrumente. 14 109 - 122 (1. Achtel)

    Die durchführungsartige Überleitung wird wieder auf- genommen und führt nach Fis dur, das nunmehr so wie das erste Mal das Stichwort zum letzten Eintritt des zweiten Themas in D dur liefert. Es ist eine Variation, die die Koloraturen der zweiten und die pizzicatos der dritten Vorführung kombiniert. 15 141 (2. Achtel) - 154 (1. A.)

    Nebenbei zeigt sich, daß das Hauptelement des Themas, die leicht schwingende Linie nacheinander der ersten, der zweiten Geige, dem Cello und zuletzt der Bratsche anver- traut war, so daß jeder dran kommt.

    Nach diesem außerordentlichen Exkurs kommt die kunstreiche Exposition mit energischen auf- und absteigenden Unisonos aller vier Instrumente relativ schnell zu Ende.

    Der anscheinend rein formelhafte Abschluß mit der Abwechslung der Tonika D mit ihrem Leitton cis 16 165 - 169 (1. A.)

    wird jedoch bedeutungsvoll identifiziert mit jenen ab- steigenden Halbtonschritten, die im ersten Thema so ent- scheidend waren 17 169 - 170, 175 - 182 (1. A.)

    Die zersetzende Wirkung, die das chromatische Wesen auf die Stabilität des Tonalen ausübt, wird von Schubert klar erkannt und in einer Weise ausgenützt, die man im Hinblick auf die damals geltenden Konventionen als "modern" bezeichnen kann. In den neun Takten unseres

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    letzten Beispiels werden fünf Tonarten berührt. Sie sind aber nicht durch die üblichen modulatorischen Prozeduren auf ein- ander bezogen, sondern erscheinen nur als flüchtige Durch- gangspunkte über der unaufhaltsam abgleitenden Baßlinie. Sie kommt auf der Dominante von Es dur zum Stillstand, und hier, also einen Halbton höher als das Ende der Exposi- tion, wird der graziöse Teil des ersten Themas mit dem hüp- fenden Rhythmus präsentiert. 18 185 - 194 (1. A.)

    Der chromatische Gleitprozeß wird in variierter Höhen- lagenverteilung wiederholt, ebenso jener Teil des ersten Themas, wiederum einen Halbton höher, in E dur, durch eine dramatisch werdende Tonlinie der ersten Geige bereichert. 19 194 - 218

    In der zweiten Hälfte der Durchführung wird das einmal entfesselte chromatische Element in der Gegenrichtung wirksam gemacht, um durch einen aufsteigenden Halbton zur nächsthöheren Molltonart zu gelangen. 20 223 - 230

    Was dieses neue chromatische Abenteuer in den Gesamt- verlauf integriert, ist die halbtönig absteigende Baßlinie, mit der die Durchführung begonnen hatte. Auch dieser Vorgang wird wiederholt und führt diesmal nach der Zieltonart G moll, in welcher die Reprise einsetzen wird. 21 247 - 254

    Die erste Überraschung hier ist die Wiedererscheinung des ersten Themas selbst: diesmal geht der Moll- dem Dur-Dreiklang voraus, die Anordnung des Anfangs wird also rückläufig gemacht. Außerdem wird der aggressive Charakter jenes ersten Auftretens entschärft und in eine lyrisch-graziöse Atmosphäre umfunktioniert 22 283 - 215 (1. V.)

    Wie in manchen anderen Fällen, weicht Schubert auch in dieser Reprise von der Tradition ab, indem er

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    das zweite Thema zunächst in einer von der Grundtonart verschiedenen auftreten läßt. Schon jene dreimalige hüpfende Abschlußfigur des ersten Themas führt uns diesmal nach C dur, und der ihr folgende chromatische Abstieg wird auf E dur aufgefangen. 23 335 - 347

    Und so wie nach dem Fis dur der Exposition das zweite Thema in D erscheint, so wird es auch hier eine große Terz tiefer, in C präsentiert. Auch hier folgt die Variation mit den Koloraturen der ersten Geige, und erst ihre durchführungs- artige Fortsetzung führt zu jenem H dur, von dem aus gerechnet G dur eine Terz tiefer steht, und dort erscheint jetzt das zweite Thema zum letzten Mal. 24 361 - 406 (1. A.)

    Der Abschluß der Reprise folgt genau dem Modell der Exposition und wird wieder von jenem chromatischen Herabschwirren gefolgt, als ob eine neue unstabile Durchführung bevorstünde. Aber das täuscht, und alles drängt zum Schluß, der nochmals das Kernmotiv des Dur- und Moll-Wechsels kraftvoll bestätigt. 25 420 - 449

    Dieser ebenso ausgedehnte wie geistreiche erste Satz wurde in einem Konzert in Wien am 25. März 1828 aufgeführt, und es wird von einer sehr beifälligen Aufnahme berichtet. Man fragt sich, warum wenigsten auf Grund dieses Erfolges die Interpreten und Ver- anstalter des Konzertes nicht auf den Gedanken kamen, das ganze Werk an die Öffentlichkeit zu bringen. Das geschah erst erheblich später, nicht weniger als 22 Jahre nach Schuberts Tod, als das Hellmesberger Quartett des Stück am 8. Dezember 1850 im Wiener Musikverein spielte. Es kann kaum die Rede davon sein, daß Schuberts moderner Stil vielleicht erst nach einer solchen Zeitspanne assi- miliert werden konnte. Trotz seiner oft unorthodoxen

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    Benützung überlieferter Prozeduren blieb seine Tonsprache stets durchaus kommensurabel, da die Kühnheiten im Wesent- lichen subtile Finessen waren, die den Kenner entzücken mochten, während sie der durchschnittliche Musikliebhaber überhören konnte, ohne des Ausdrucksgehaltes dieser Musik ver- lustig zu gehen. Im Gegensatz zu Beethoven, dessen Tonsprache zwar auch zuerst in manchen Partien der letzten Quartette zu Stirnrunzeln Anlaß gab, der aber durch die herrisch- dramatische Geste seiner Musik manche Hörer erschrecken mochte, war Schubert stets ein angenehmer Komponist gewesen. Ohne genauere Kenntnis der Struktur des damaligen Musik- lebens können wir schwer verstehen, warum so viele seiner Werke unbeachtet blieben, obwohl jene, die an die Offentlichkeit gelangten, anscheinend enthusiastisch aufgenommen wurden.

    Es gibt einen Bericht, wonach auch der zweite Satz des G dur Quartetts in einem Konzert, das man heute vielleicht als "bunten Abend" qualifizieren würde, am 26. Dezember 1827 zu hören war. Jedenfalls erwähnt das eine der drei Schwestern Fröhlich, die damals ein schön- geistiges Zentrum in Wien bildeten, in ihrem Tagebuch, mit dem Zusatz, es habe sich um Variationen über ein schwedisches Volkslied "Die Sonne sinkt" gehandelt. Der unermüdliche Otto Erich Deutsch, dem man nicht so leicht etwas vormachen kann, ist der Sache nachgegangen und hat einen gewissen Albert Berg stellig gemacht, einen schwedischen Sänger, der sich damals in Wien produzierte und unter anderem ein solches Lied seiner Manufaktur zum Besten gab. Jedoch es scheint, daß das geschah, nachdem Schubert sein Quartett geschrieben hatte, und außerdem gibt es Gründe zu bezweifeln, daß es überhaupt der zweite Satz des Quartetts war. Vielleicht war es der lang- same Satz aus einem dem Es dur Trio. Offensichtlich war die damalige Buchführung in solchen Dingen etwas lax. Heute könnte das nicht passieren - oder wenigstens hoffen wir das.

    Wenn wir versuchsweise annehmen, daß Fräulein Fröhlich den zweiten Satz des Quartetts gehört hat, so

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    können wir es ihr vielleicht nicht verargen, daß sie an ein schwedisches Volkslied oder etwas dergleichen erinnert wurde. Das Hauptanliegen dieses Satzes ist ein in jeder Hinsicht harm- loses liedhaftes Thema. Seine aus viertaktigen Phrasen streng symmetrisch aufgebauten acht- und sechzehntaktigen Perioden sind durch keine bei Schubert sonst so häufigen Verkürzungen oder Spreizungen gestört, und das harmonische Gefüge be- schränkt sich auf die Grundtatsachen der Tonalität. 26 II 1 - 18

    An diesem friedfertigen Sätzchen ist höchstens bemerkens- wert, daß von den acht Takten der ersten Periode nicht weniger als sieber die Dominante von e-moll umspielen, während die Tonika erst im achten Takt entscheidend hervortritt. Dieses lange Zögern vor dem Aussprechen des Selbstverständlichen mag als reizvoll, oder aber auch als etwas geziert empfunden werden.

    Man kann nicht sagen, daß die Fortsetzung ein erregendes Moment in den Verlauf einführt. 27 19 (m. Auftakt.) - 31 (1. V.)

    Die ausführliche Wiederholung einfacher melodischer Gebilde in einem harmonisch völlig statischen Rahmen läßt er- kennen, daß die Vitalität des Einfalls nicht ganz ausreichte, einen vorgegebenen Raum mit Leben zu füllen.

    Das Bild ändert sich, wenn der schon im ersten Satz bemühte absteigende Halbtonschritt einen anderen Horizont auftut. Der schwedische Abend verdüstert sich unversehens, zackige Rhythmen türmen sich auf. 28 40 (m. Auft.) - 48 (ohne letztes )

    Von dem stürmischen Gedränge bleibt jeweils im Cello eine Zacke übrig, wie aus felsigem Gefüge herausgebrochen. Das Gedränge wird noch dramatischer durch die schnellen, rauhen Passagen der vier Instrumente. Die zackige Figur erscheint nochmals, auf ein zweitöniges, blitz- artiges Zucken verkürzt. 29 49 (m. Auft.) - 52

    Düstere Tremolos verdunkeln die Landschaft weiterhin durch eine unerwartete, wieder durch den Halbtonschritt

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    eingeleitete Abweichung nach dem entfernten cis moll. Die blitzartige Figur verharrt aber hartnäckig auf ihrer von g moll abgeleiteten Tonhöhe. Sie wirkt hier als aufregender Fremdkörper, und nicht weniger so, wenn sich der Prozeß in weiterhin absinkenden Tremolos wiederholt und nach b moll führt. 30 53 - 56

    Es ist interessant, daß an allen diesen Punkten das grelle Herausfallen der kleinen Blitze aus dem lokalen harmonischen Verlauf wegerklärt werden kann, wenn man sie als die Hälfte eines verminderten Septimenakkordes auffaßt, dessen andere Hälfte von den den Blitzen fol- genden kleinen Tremolo-Terzen gebildet wird - ein Akkord, der in jeder der von den Tremolos erreichten Tonart einen legitimen Platz hat. Schubert ist vorsichtig genug, das Schockelement, das er geschaffen hat, auf diese Weise zu rechtfertigen - oder, besser aus- gedrückt, es entspricht einfach seiner Natur, das über- kommene Gesetz selbst da zu achten, wo er den Anschein erweckt, daß er es brechen wollte. Uns Heutige interessiert natürlich vor allem, daß er gerade das wollte.

    Nochmals ein Halbtonschritt hinunter, und der ganze ungewöhnliche Vorgang wird auf niedriger Ebene wieder- holt.

    Es folgt eine ausführliche Reprise des lyrischen ersten Anfangs- teils, die erste von zwei solchen Reprisen. Sie steht in h moll und zeichnet sich durch einige attraktive Umspielungen der schlichten Gesangslinie aus. 31 90 (m. Auft. ) - 98 (3. V.)

    Eine bescheidene Imitation kontrapunktiert die graziösen Figuren des Cellos gegen Ende dieser Reprise. 32 112 - 119 (1. V.)

    Die stürmische Episode mit den zuckenden Blitzen wird auf anderen Ebenen wiederholt und führt nach einer langen Überleitung zur letzten Reprise des Hauptteils, diesmal in e moll, mit kleinen Aufhellungen in E dur. 33 176 (Auft.) - 183 (3. V.)

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    Der klopfende Begleitrhythmus, der als neues Element hinzutritt, kann nicht das Bedenken zerstreuen, daß hier vielleicht des Guten zu viel, oder nicht genug getan wurde, um eine so ausführliche ABABA Form eines langsamen Satzes von immerhin 229 Takten mit Leben zu füllen.

    Schon der Anfang des dritten Satzes entschädigt uns für die leichte Ermüdung, die der langgedehnte Zweite hat vielleicht aufkommen lassen. Das rasch bewegte Scherzo beginnt normal genug mit einer achttaktigen Periode, die aber bei näherer Betrachtung in zwei Phrasen von je sechs und zwei Takten zerfällt. 34 III 1 - 8

    Die ersten sechs Takte bilden offensichtlich eine Einheit, 35 1 - 6 die von den folgenden zwei durch die Pause in der Oberstimme deutlich abgesetzt ist. 36 1 - 8

    Die letzten zwei Takte wirken als bestätigender Abschluß. Der Vorgang wird nochmals durchgenommen und mündet in der parallelen Dur-Tonart, in D dur. 37 9 - 16

    Die folgenden sechzehn Takte befestigen in mehreren Ka- denzen diese Zwischentonart, wobei an der Brechung des jeweiligen Akkords in drei absteigende Töne festgehalten wird, nach dem Muster des zweiten Taktes des Hauptthemas. 38 17 - 32

    Der Durchführungsteil des Scherzos bringt jene chromatischen Elemente ins Spiel, die den ersten Satz so weitgehend beherrscht hatten. Schon in den ersten Takten wird mit Hilfe ab- steigender Halbtonschritte schnell das Gebiet mehrerer Ton- arten durchschritten. 39 33 - 44 (1. V.)

    der dreitaktige Aufenthalt in e-moll bietet nicht die Stabilität, die er andeutet. Der chromatische Zersetzungs- prozeß geht sogleich weiter und bringt sogar jenes halb- tönige Herabschwirren in Erinnerung, das die Durch- führung des ersten Satzes charakterisiert hatte. 40 45 - 62 (1. V.)

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    Ein dreitaktiger Aufenthalt in cis moll artikuliert die Form dieser Durchführung, aber auch hier geht es gleich weiter, bis die Bewegung auf der Dominante von h moll sich konso- lidiert und in einer aufsteigenden Halbtonlinie zur Reprise führt. 41 45 - 62 69 - 92 (1. V.)

    Hier wird die Wendung nach D dur ersetzt durch eine nach C dur, was die sogenannte neapolitanische Sext von h moll ist, und an Stelle von acht Takten bedarf es jetzt einer Dehnung auf zwölf, um die abschließende Phrase von acht Takten in H dur herbeizuführen. 42 99 - 126 (1. V.)

    Die Coda ist noch gewürzt durch den unvermittelten Eintritt eines Es dur-Dreiklangs, der sich in der h moll Umgebung reichlich fremd ausnimmt. Er ist jedoch respektabel zu machen, wenn man ihn als Teil des verminderten Septimen- akkords der siebenten Stufe von h moll auffaßt, wobei das E zu es alteriert und das B als ais zu lesen ist. Die Aka- demiker atmen auf. 43 131 - 132

    Es ist noch zu bemerken, daß dieses Scherzo in seiner ganzen Ausdehnung von 146 Takten ein pausenloses perpetuum mobile ist, aufgebaut auf der unablässigen Wiederholung seines rhythmischen Urmotivs: sechs Achtel plus drei Viertel. 44 1 - 2

    Gegenüber der ruhelosen Hast des Scherzos stellt das friedlich heitere Trio einen willkommenen Kontrast dar. Seine schlichten achttaktigen Perioden werden durch graziöse Kontrapunkte zur leicht hinfließenden Hauptmelodie angenehm belebt. 45 (Trio) 151 - 166

    Rapide Bewegung hingegen kennzeichnet wieder den letzten Satz. Daß das ganze Quartett einem ein- heitlichen Konzept entsprungen ist, läßt sich daraus erschließen, daß gleich in den ersten Takten der

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    Wechsel von Dur und Moll zum Ausgangspunkt der bevorstehenden ausgedehnten Vorgänge gemacht wird. Wir hören G moll im ersten Takt, aber schon im dritten wendet es sich nach G dur. Zwei Takte weiter hat man wieder g moll, das aber diesmal eine viertaktige Es dur-Insel entstehen läßt, bevor es in eine schnelle pianissimo Kadenz in G dur mündet. Wir erinnern uns an die charakteristische Rolle, die Es dur in der Ausarbeitung des ersten Themas im ersten Satz hatte. Hier nun diese ersten zwölf Takte: 46 IV 1-12 (1. A.)

    Es ist deutlich zu spüren, daß die vier Es dur-Takte ein Ein- schub sind, der die normalen acht Takte der Periode auf zwölf erweitert. Um das Gleichgewicht in Schwebe zu er- halten, wird die geplante Wiederholung der Periode nicht sofort angeschlossen, was sie kurzatmig machen würde, sondern es werden zwei Takte eingeschoben, die durch die überraschende Einführung der Dominante von B dur die nötige Gewichtsverlagerung bewirken. Hier nun das Ganze: 47 1 - 15 plus 1 - 14

    Ein besonders schönes Beispiel für Schuberts Meister- schaft im Jonglieren mit Gewichten, in Störung und Wiederherstellung der Symmetrie. Er hat das zu einer Spezialwissenschaft gemacht, in der ihn niemand übertroffen hat.

    Es handelt sich hier um einen jener hinrasenden Sechsachtelsätze, die Schubert in seiner letzten Schaffens- periode öfter als Finale geschrieben hat. Das Finale unseres Quartetts ist nahe verwandt mit dem des d moll- Quartetts "Der Tod und das Mädchen", das Schubert am Anfang desselben Jahres 1826 komponierte. Hier dessen Anfang: 48 d-moll Qu. IV 1 - 16

    Das Finale der c moll-Klaviersonate, die Schubert kurz vor seinem Tod im September 1828 schrieb, hat denselben Charakter. 49 Sonate c moll, IV 1 - 16

    Die Andeutung der B dur-Dominante, die wir hervor- gehoben haben, bleibt nicht ungenützt. An die

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    Wiederholung der ersten Periode schließt sich eine kleine Variante des Anfangsthemas in B dur, aber sie wird in kühnem Schwung in einem Takt nach h moll geworfen, ebenso schnell nach F dur und G moll gewendet, wo ein längeres Zögern auf einem enharmonisch umdeutbaren Terzquart-Akkord die ebenso entfernte Tonart As dur vortäuscht, bevor wir nochmals zur Haupttonart zurückkehren. Nach einer kurzen Ausweichung nach b moll folgt eine mehr stabile Coda, die das etwas an- geschlagene G dur festigt. 50 14, 16 - 70 (1. A.)

    In diesen 72 Takten sind wir durch fünf weit auseinander liegende Tonarten gerissen worden, und doch sind wir erst am Ende des ersten Themas angelangt.

    Es nimmt nicht wunder, daß die Überleitung zum zweiten Thema das chromatische Taumeln fortsetzt, 51 74 - 88 bevor das schalkhafte zweite Thema sich in D dur niederläßt. 52 94 - 109 (1. V.)

    Das Modell der großen Rondoform, dem zu folgen wir von diesem Satz nach seinem bisherigen Gehaben erwarten, würde jetzt eine Rückkehr zum ersten Thema verlangen. Statt dessen folgt, was man am ehesten als Durchführung des zweiten Themas bezeichnen könnte. Jedenfalls dominiert in dem unstabil fluktuierenden Abschnitt das Element der drei klopfenden Achtel. 53 150 - 188 (1. A.)

    Während vom ersten Thema weiterhin keine Spur zu vernehmen ist, taucht ein total verschiedenes drittes Thema auf. 54 211 (2. Hälfte) - 234 (1. A.)

    Die bisher vorherrschende fieberische Hast steht still. Die majestätischen Klänge machen glauben, daß das Tempo plötzlich halb so schnell ist. Während bisher der in drei schnelle Achtel unterteilte halbe Takt die Zähleinheit war, ist es nun plötzlich der ganze Takt. Schubert hat denselben sehr effektvollen Trick des öfteren angewendet, so auch im Finale des d moll Quartetts. 55 d moll Qu. IV 90 - 112 (1. A.)

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    Dieses kurze Thema bleibt isoliert und wird nicht weiter ent- wickelt. Die ruhelose Bewegung, von der es alsbald wegge- schwemmt wird, führt endlich zur Reprise des Hauptthemas, die aber rasch in eine Durchführung übergeht, in die auch seine Coda verwickelt wird. Man hört kurze Ansätze zu kontrapunktischer Engführung und Umkehrung. 56 274 - 300

    Die entfesselte Chromatik führt in das entlegene cis moll, und dort entfaltet sich überraschenderweise ein wiederum scheinbar ruhigeres viertes Thema. 57 324 - 341 (1. H.)

    Auch diesem wird von dem rastlosen Durchführungstreiben eine Fortentwicklung gegönnt. Die Idee der in der chromatisch absteigenden Skala repräsentierten geradlinigen Bewegung strebt man ihrer einfachsten, radikalsten Ausprägung zu: die chromatische Linie erscheint im Cello und wird mit einer ebenso geradlinig aufsteigenden im Diskant gekoppelt. 58 415 - 432 (1. A.)

    Damit wird die Reprise eingeleitet. Das in den Durchführungs- teilen so eingehend behandelte erste Thema erscheint verkürzt während das zweite und dritte unverändert ihren in der Ex- position vorgezeichneten Lauf nehmen. Die Coda besteht aus einer letzten Darstellung des Hauptthemas, die schnell zur kulminierenden Wiederholung der radikalen gegenläufigen Linien führt. 59 653 (Auft.) - 674

    Der letzte Auftritt des Coda-Themas scheint zu zerflattern, in der Ferne sich aufzulösen. Ein kräftiger Schlußpunkt besiegelt das Ende des ungeheuren Opus. Der letzte Satz allein hat 710 Takte. 60 682 - Ende.

    Das ganze Werk hat 1588 Takte, das ist ungefähr die Länge von zwei Akten einer abendfüllenden Oper. Man hat die in der Partitur angegebenen Daten zweimal zu lesen, um sicher zu sein, daß man sich nicht geirrt hat. Dieses riesige Werk wurde in zehn Tagen komponiert und

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    niedergeschrieben, von 20. bis 30. Juni 1826. Das bedeutet schon rein manuell eine Rekordleistung. Ein Kopist, der im Durch- schnitt täglich 160 mit Noten dicht gefüllte Takte zustande bringt, hat gute Arbeit geleistet. Aber dieses Werk wurde ja nicht kopiert, sondern geschaffen, und unsere Analyse hat hoffentlich gezeigt, anschaulich gemacht, wie viele Einfälle einer strömenden Phantasie nicht durch einen Rekurs auf tradi- tionelles Verfahren erledigt werden konnten, sondern frisch formuliert werden mußten, wieviel technischer Scharfsinn und sorgfältige Überlegung auf die Ausführung ungewöhn- licher Formideen verwendet werden mußte. Gewiß sind manche ausgedehnte Partieen wörtliche Wiederholungen vorhergehender Exposition. Aber auch diese konnten nicht mechanisch kopiert werden, da sie stets in anderen Tonarten erschienen, was oft auch Modifikationen in der Instru- mentenverteilung notwendig machte. Natürlich ist es im Endresultat belanglos, wieviel reale Zeit die Schaffung eines Kunstwerkes in Anspruch nimmt. Es läßt sich sagen daß schnelle Arbeit das Entstehen langer Werke be- günstigt, während langsamer Schaffensprozeß zu Konzentration und Dichte der Aussage drängt. Wie immer man das beurteilen mag, Schuberts Arbeitstempo ist ein Phänomen, das schlechthin unbegreiflich bleibt.

    Ernst Krenek

    Caslano, TI. Juli 1973

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    [Aus Franz Schuberts letzter Schaffensperiode. Chronologie und Analyse des Streichquartettes Nr. 15, G-dur, op. post. 161, D 887]

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    12

    Signatur

    LM-004-03

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Musikalische Analyse, Instrumentale Kammermusik
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