Kranichstein[er Musikinstitut, März 1955], 2. Versuch

Abstract

Mit Bezug auf Theorien zur Kybernetik von Norbert Wiener diskutiert Krenek in dem kurzen Einleitungsvortrag zu einer Veranstaltung im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse (vermutlich 1956) die Beziehung zwischen durch Symbole notierte Musik und deren klingender Ausführung im Zusammenhang mit der immer komplexer werdenden Neueren Musik. In der elektronische Klangerzeugung sieht er eine Möglichkeit Kommunikationswege zwischen Komponist:innen und Interpret:innen abzukürzen und so Informationsverlust zu vermeiden. In einem Gedankenspiel zieht er eine Parallele von Musik und Literatur indem Musik auch geschaffen werden könnte, um nur in ihrem in Symbolen fixierten Ausdruck konsumiert zu werden.

    Kranichstein, 2. Versuch ManuskriptMS

    Der amerikanische Physiker und Philosoph Norbert Wiener ist der Begründer einer Wissenschaft, die er "Kybernetik" nennt. Sie be- faßt sich mit dem Wesen und der Technik der Mitteilung. Der philosphische Ausgangspunkt seiner Darlegung ist, daß das Universum seiner Natur nach danach strebt, einen Zustand von Spannungslosigkeit, Gleichmäßigkeit und unartikuliertem Chaos zu erreichen, ein Vorgang, der als Entropie bezeichnet wird. Triumph und tragische Niederlagen des Menschen besteht darin, daß er sich diesem Vorgang mit Mut und Erfindungs- gabe widersetzt.

    Um sein Vorhaben auszuführen, muß der Mensch sich mit- teilen. Jedoch, in Analogie zum zweiten thermo- dynamischen Gesetz, ist auch Mitteilung in ihrer Wieder- gabe fortgesetzter Verwässerung und Verschlechterung unterworfen.

    Niemand weiß das so gut wie der Komponist, der sich musi- kalisch mitzuteilen wünscht. Das, was dem Hörer zu Ohren kommt, bleibt oft hinter dem zurück, was der Interpret aus dem Text des Komponisten dechiffrieren konnte, und die Instruktion, die dieser zu Papier bringt, ist nur ein sehr annäherungs- weises Symbol dessen, was er sich vorgestellt hat. Der Verlust an "Information" - um bei Wieners Terminologie zu bleiben - auf dem Weg vom Gehirn des Komponisten, wo die "Botschaft" entspringt, zu dem des Hörers, wo das "Signal" verstanden wird, ist gewaltig.

    Der Botschaft wird komplizierter und erfordert präzisere und kompliziertere Symbole. Diese sind schwieriger zu ent- ziffern, und darum wird das "Signal" undeutlicher. Man mag, wie es viele tun, beklagen, daß unser Leben, und damit auch unsere Musik, so komplex geworden ist, aber sich dagegen zu stemmen hat wenig Sinn. Wenn wir die Annehmlichkeiten, die eine komplexere Technik in unser Leben gebracht hat, annehmen - und selbst finstere Reaktionäre tun das gern -, so können wir nicht erwarten, daß unsere intellektuellen und künstlerischen Äußerungen den Stil der Urgroßväter bei- behalten.

    Im Laufe der Geschichte wird die

    Musik ist Literatur geworden, indem ihr Wesen oft fast vollkommen besser im graphischen Symbol beschlossen ist . selbst so daß es Die Musik besteht, selbst wenn sie nicht in klingenden hörbaren Ton umgesetzt wird. Natürlich soll die Musik gehört werden, aber ich empfehle den modernen Komponisten, den seine Gegner mit dem Schlagwort "Papiermusik" in die Enge zu treiben suchen wollen, zu antworten: "Und Warum nicht? Man braucht ja Bücher auch nicht laut zu lesen, um sie zu genießen - vorausgesetzt, daß man lesen kann." man kein Anaphabet ist."

    als in der klingenden Ausführung

    Nun hat aber Komplexität an gewissen Stellen einen solchen Grad erreicht, daß man die Musik auch kaum mehr lesen kann. Hier schlägt Quantität in eine neue Qualität um, diese Musik muß man wieder hören, um ihrer überhaupt habhaft zu werden. Elektronische Klangerzeugung gibt die Möglichkeit, den Weg der Botschaft radikal abzukürzen und den Verlust von Information auf ein Mini- mum herabzusetzen.

    Norbert Wiener beklagt, daß die ameri- kanische Mentalität im naiven Stolz auf das "Know how" ("Wissen, wie") sich nur zu gern vom empirischen Pragmatismus dahin belehren läßt, daß die Fragen "know what" und "know why what for" (wissen, was, und wozu) keine Bedeutung haben. Wenn wir uns in das Wie der neuen musikalischen Kommunikationsmittel vertiefen, der müssen wir jenen Fehler vermeiden und das Was und Wozu nicht aus den Augen verlieren.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Kranichstein[er Musikinstitut, März 1955], 2. Versuch

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    2

    Signatur

    LM-210-02

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Neue Musik, Elektronische Musik
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