Kranichsteiner Musikinstitut, März 1955
Abstract
In Grußworten zu einer Veranstaltung der Darmstädter Ferienkurse in 1956 spricht Ernst Krenek über seine bisherigen Erfahrungen mit den jungen Teilnehmer:innen der Ferienkurse in den Jahre 1950 und 1954. Er lobt eine sehr gesteigerte Bereitschaft zur Diskussion kompositions-technischer Fragen, deutet aber humorvoll auch Kritik an einem Übergewicht des Anteils an Diskussionen zuungunsten des Komponierens neuer Musik an.
In den zehn Jahren ihres Bestandes hatte ich
zweimal die Ehre und das Vergnügen, an den
Kranichsteiner Ferienkursen
in verschiedenen Eigennhaften
teilzunehmen.
In 1950, als ich dem Sommerinstitut zum
ersten Mal beiwohnte, galt es vor allem, sich
Lücken in der von den Studenten mitgebrachten
geistigen Ausrüstung auszufüllen. Die inter-
lektuelle Öde und physische Pein, in der die
meisten von ihnen ihre wichtigsten Entwicklungs-
jahre verbringen mußten, hatte sie über viele
wesentliche Dinge, die in der Theorie und Praxis
der neuen Musik während jener Jahre geleistet
worden waren, im Dunkel gelassen. Ihre
Ungeduld, das Versäumte nachzu-
holen, ihre Energie,
Als ich 1954 lückenlos dichten
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oder Unrecht) die Anschauung zurechtgelegt
hatte, Kranichstein festgelegtDiese r der
individuellen Anwendungsweisen dieser Technik
als "deviationistisch" gebrandmarkt wurde.
Im Gegenteil, die Doktrin war lebhaftester Dis-
kursion unterworfen. Es bestand jedoch die
Tendenz, nicht nur für andere Diskussions-
gegenstände wenig Interesse zu zeigen, sondern auch
innerhalb der selbstgewählten Begrenzung fast
nichts anderes zu tun als zu diskutieren.
Nun ist es ja natürlich, daß eine Gruppe von
Menschen, insbesondere jungen Menschen, die sich
einer bestimmten Idee mit Leidenschaft be-
mächtigen, unduldsam und einseitig wird und
einen an die Schriftgelehrten und Pharisäer ge-
mahnenden Kastengeist entwickelt. Ohne daren
Ärgernis zu nehmen (das wäre ja auch wieder
pharisäische Selbstgerechtigkeit), kann man
solche Tendenzen mit Bedenken betrachten,
wenn in Von
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Dafür sorgt schon die spritzige Krisenatmo- sphäre, die die Tagungen anscheinend von An- fang bis zu Ende zu durchwalten pflegt, kräftig gespeist von den köstlichen Gärungsstoffen der Emp- findlichkeit, die manche Teilnehmer, vielleicht im Hinblick auf die Abwesenheit anderer spritzigen Genußmittel, in Fülle mitbringen.
Spaß beiseite — das ist alles gut und schön
und mehr als anregend. Man muß nur gelegentlich
daran denken, daß Musik, um diskutiert zu werden,
erst geschaffen werden muß. Wenn man über
Musik so viel redet, daß man nicht mehr dazu
kommt, sie zu schreiben, dann gibt es bald auch
nichts mehr, worüber man reden kann. Dann
gäbe es auch bald kein Kranichstein mehr, und
das wäre in