für WDR
Aug 1977
Beethovens Streichquartette haben mich auf längeren Wegstrecken
meiner kompositorischen Laufbahn immer wieder begleitet und für
auf manche ihrer Wendungen entscheidende Bedeutung gewonnen,
vom spielerisch - graziösen G-dur Quartett aus opus 18, das ich
in dem Kurs für Partiturspiel, den ich bei meinem Eintritt in die
Staatsakademie in Wien als Nebenfach zu belegen hatte, auf
dem Klavier zusammenzustottern begann bis zu dem herz-
bewegenden opus 135, dessen Adagio ich bei der Trauerfeier für
Karl Kraus im November 1936 vom Kolisch Quartett spielen ließ.
Als ich mich in der atonalen Tonsprache auszudrücken begann,
konnte ich die Zone der aphoristischen Kürze, die meine Vor-
gänger bei ihrem Vordringen in dieses unerforschte Gebiet
haben passieren müssen, hinter
mich bringen ohne mich darin aufzuhalten und mich alsbald mit den Problemen der
Großform auseinandersetzen. Dabei konzentrierte sich meine
Aufmerksamkeit vor allem auf Beethovens Cis-moll Quartett
opus 131, da in diesem Werk das ganze Repertorium des Sonaten-
Zyklus in einem zusammenhängenden Ablauf mit Übergangs-
und Einleitungspassagen integriert wird. Dieses Formkonzept
war das Modell nicht nur für mein erstes Streichquartett opus 6
von 1921 und die kurz darauf entstandene erste Symphonie,
sondern auch für mein drittes, sechstes und siebentes Quartett.
1'50''
Als ich mich später der Zwölftontechnik zuwandte, wurde
mir die Bedeutung eines kompositorischen Details klar, das mir
schon früher aufgefallen war. Es erscheint in drei der letzten
Quartette und spielt im A moll Quartett opus 132 eine wichtige,
im Cis moll opus 131 und in der Großen Fuge opus 133 eine ent-
scheidende Rolle, nämlich das aus zwei Halbtonschritten be-
stehende Viertonmotiv. Hier hat Beethoven mit einem musi-
kalischen Atomkern gearbeitet, mit einer Grundgestalt, eine Vision, die erst
hundert Jahre später in der Zwölftonreihe Wirklichkeit werden
und zum beherrschenden Prinzip eines Musikstils sich ent-
wickeln sollte. Ich erblickte in der BACH Chiffre das ein Vorbild der
Beethovenschen Grundgestalt und in dem der viertönigen Chromatik
des Tristanthemas ein Zwischenglied in der historischen Ent-
wicklung zu Schönbergs Dodekaphonie. Als ich 1950 vom italie-
nischen Radio um einen Beitrag zur zweihundertjährigen zum Gedachtnisfeier von Johann
Sebastian Bachs zweihundert Tod
gebeten wurde, versuchte ich diese Zusammenhänge in einem Streichtrio
darzustellen, unter dem Titel Parvula Corona Musicalis in honorem
Johannis Sebastiani Bach.
3'30''
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Eingesprengt in das dichte, vielfach verschlüsselte Gefüge der
letzten Quartette sind ein paar vereinzelte, naive Phrasen von
verblüffender Einfachheit, wie die beiden der sorglosen Viertakter vor
dem Ende des Finales opus 135, und der andere, das übermütige
Pfeifliedchen im Trio des Scherzos von im Cis moll Quartett, das wie
ein Kinderreim klingt. Es ist, als wollte Beethoven mit ungewohnter
Schalkhaftigkeit uns andeuten, daß das alles gar nicht so wichtig ist.
In der Tat, als ich mich in den fünfziger Jahren mit dem Serialismus
auseinanderzusetzen begann, traten die Beethoven Quartette in meinem
Bewusstsein in den Hintergrund – freilich nicht etwa, weil die Musik sich
der Simplizität jener Viertakter angenähert hatte. Im Gegenteil, sie wurde
so schwarz und ernst wie nur etwas, aber ihre Gestaltungsprinzipien
haben nichts mehr mit den in jenen Quartetten so großartig ausein -
andergelegten Formproblemen zu tun. Die ideell totale
Vorherbestimmung des seriellen Organismus mit ihrer unabwendbaren Ausmündung
in den unberechenbaren Zufall konnte in der
klassischen Logik emotionell motivierter Klangstrukturen
keine Modelle mehr erblicken. Was uns jedoch erhalten bleiben
sollte und durch weitere Befassung mit Beethovens Quartetten
gefördert werden könnte, ist ein Gefühl für die Dignität des
Komponierens als einer Manifestation der einfachen Menschenwürde.