Vortrag für Salzburg

Abstract

In diesem Vortrag – gehalten vermutlich am Mozarteum Salzburg im November 1951 – skizziert Krenek amerikanische Musikgeschichte (bezogen auf westliche Kunstmusik) und beschreibt Unterschiede zwischen europäischem und amerikanischem Musikleben.

    Ernst Krenek 6217 Rockchiff Drive Los Angeles 28, Californien, U.S.A. ? 1951

    Wenn man den Stand der Musik in Amerika und den Charakter des amerikanischen Musik- lebens richtig beurteilen will, muss man sich die geschichtliche Entwicklung vor Augen halten. In Europa war die Musik von Altersher mit der hoechsten Gesellschafts- schichte verknuepft. Kaiser und Koenige, Paepste und Kardinaele, Fuersten und Grafen haben durch Jahrhunderte miteinander gewetteifert, die Schaffung und Wiedergabe von Musik anzuregen und zu foerdern und als das feudale Gesellschaftssystem nach und nach von den modernen, demokratischen Formen abgeloest wurde, haben die Staats- und Stadt- verwaltungen das Erbe der frueheren Herrschaften uebernommen und die Musikpflege weitgehend in ihren Aufgabenkreis einbezogen. Dadurch hat die Musik in den meisten europaeischen Laendern stets eine gewisse soziale Wuerde behalten, die ihr durch alle Wandlungen, Revolutionen und Zusammenbrueche bis heute unzerstoerbar anhaftet. In der neuen Welt liegen die Verhaeltnisse ganz anders. Solange die oestlichen Rand- gebiete Amerikas eine englische Kolonie waren, konnte man in ihrem Musikleben einen naturgemaess schwachen, provinziellen Abglanz der europaeischen Musikpflege sehen. Sehr bedeutend war dieses Musikleben kaum, da ja auch England im 17. und 18. Jahr- hundert als Musikland nicht besonders hervortrat. In den ersten Jahrzehnten der ameri- kanischen Unabhaengigkeit, das heisst etwa bis zum Buergerkrieg der sechziger Jahre, war ein erfreulicher Aufschwung zu beobachten. Ein Ueberblick ostamerikanischer Kon- zertprogramme aus jenen Tagen, den einige meiner fortgeschrittenen Studenten vor ein paar Jahren unter meiner Aufsicht vornahmen, ergab das Bild eines lebendigen, reich- haltigen und auf hohe Qualitaet bedachten Musiklebens. Als kleine Illustration will ich ein Kuriosum auffuehr anfuehren, das wahrscheinlich nicht allgemein bekannt ist. Das schoene und in Europa so populaere H-dur-Klaviertrio von Brahms wurde in Amerika uraufgefuehrt, bevor es noch in Europa gehoert worden war.

    Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bereitete sich eine Wendung vor, die zunaechst nicht die erfreulichsten Folgen zeitigte. Die rapide Erschliessung der ungeheuren Raeume des Westens brachte eine Masseneinwanderung mit sich, die die intellektuelle Struktur der amerikanischen Gesellschaft sehr grunedlich veraenderte. Waehrend die soziale Oberschichte der Ureinwanderer, besonders in den groesseren Staedten wie Boston, New York und Philadelphia, die aus Europa bekannten Standards der Musikpflege nachzuahmen und festzuhalten suchte, hatten die Millionen, die sich in die neu er- schlossenen Territorien ergossen, kaum solche Interessen. Die hauptsaechliche Trieb- kraft, die diese Menschen zur Einwanderung ansporte, war der Wille, den vielfach elenden Lebensverhaeltnissen ihrer Heimatlaender zu entgehen und von den fabelhaften

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    materiellen Moeglichkeiten des neuen Erdteils ausgiebigen Gebrauch zu machen. Diese Menschen hatten in der alten Heimat schon sehr wenig oder keine Beziehung zu den hoheren Geistesguetern gehabt und konnten zunächst auch in der neuen Heimat keine Solche Beziehung entwickeln, da es ja dort keine Fuersten und Bischoefe und auch kein hochkultiviertes Buergertum gab, von dessen wohlorganisierten Geistesleben das Licht wuerdevoller Kunst in die tieferen Bereiche haette ausstrahlen koennen. Der Kampf ums Dasein verschlang alle Energien und die primitive Begierde nach materiel- lem Glueck, die diese Massen erfuellte, war durch billige Unterhaltungsware rasch befriedigt. Dazu kommt, dass diese Bewegung zeitlich zusammenfiel mit der Periode, in welcher durch das Aufkommen von Massenproduktionen und Massenabsatz Musik wie alles andere zum Gegenstand des Geschaeftsbetriebes wurde. Dieser Prozess fand in Europa genau so wie in Amerika statt, jedoch in Europa wirkte die althergebrachte Wuerde der Musik, von der ich frueher gesprochen habe, doch stets als eine wohltaetige Bremse, so dass der Prozess nicht so schnell und gruendlich durchgriff wie dort. Musik kam in die Staaten des fernen Westens als Unterhaltung und Geschaeft. In den staedtischen Museen von Denver, Colorado und Cheyenne, Wyoming, kann man noch die Spuren davon sehen, wenn man auf Zirkusprogrammen zwischen dressierten Pudeln und Clowns angezeigt finden, dass Mme. Adeline Patti zwei Arien von Meyerbeer singen wird, oder dass der unueberbietbare Tenor Jonathan Smith das beruehmte hohe C zum besten geben wird. Wenn man sich diese belustigenden oder schreckenden Anfaenge eines Musik- lebens vor Augen haelt, kann man es gar nicht genug bewundern, mit welcher Energie und Schnelligkeit Amerika es zuwege gebracht hat, sich in die Musikkultur der west- lichen Welt einzuschalten. An allen diesen Orten, in denen ernste Musik als Zir- kusnummer ihr erstes fragwuerdiges Auftreten erlebte, gibt es heute Symphonierchester und Serien von Selistenkonzerten, und durch das Radio sind die Bewohner der entlegen- sten Wuesten und Gebirge an das musikalische Geschehen unserer Welt angeschlossen. In Quantitaet des Verbrauchs von sogenannter ernster Musik steht Amerika keinem anderen Lande nach.

    Freilich kann man dem amerikanischen Musikleben jene fruehen Grundvoraussetzungen doch noch vielfach anmerken. Zunächst einmal haelt sich die oeffentliche Hand vom Musikbetrieb fast ganz fern und ueberlasst ihn im Wesentlichen privater Initiative. Das ist nicht nur eine Folge der historischen Entwicklung, die ich angedeutet habe, sondern entspricht auch der allgemeinen Einstellung des Amerikaners, dem jedes Ein- greifen der Regierung verdaechtig erscheint und nach Sozialismus und Diktatur zu schmecken scheint, beide sehr unpopulaere Gerichte in der amerikanischen Kueche.

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    Ganz logisch ist diese ablehnende Haltung gegen oeffentliche Subventionen an Musik- institute ja nicht, da Jedermann es fuer selbstverstaendlich haelt, dass Stadt-, oder Staatsverwaltungen Strandbaeder, Spielplaetze und Museen erhalten, und tat- saechlich wird die Errichtung eines Bundesministeriums der schoenen Kuenste vielfach befuerwortet. Die Gegenfrage, ob es wuenschenswert sei, dass die kuenst- lerischen Belange Amerikas von ein paar Buerokraten in Washington dirigiert werden, laesst sich freilich diskutieren, jedoch scheint es ebenso wenig wuenschenswert, dass diese Belange im Wesentlichen von ein paar allmaechtigen Radio- und Konzert- agenturen in New York kontrolliert werden, wie es jetzt der Fall ist. Wenn oeffent- liche Unterstuetzungen in Frage kommen, so waere eine weitgehende Dezentralisie- rung und Betonung lokaler Initiative wohl die beste Loesung, und auf diesem Ge- biet liege schon gewisse bescheidene Anfaenge vor. Die Stadt New York unterstuetzt ein Opernhaus, das der reichlich verkalten Metropolitan Opera begruessenswerte Konkurrenz machte, der Bezirk Los Angeles foerdert Opernauffuehrungen und andere musikalische Aktivitaeten, und mehr solche Beispiele liessen sich anfuehren. Jedoch die meisten Institute sind auf private Mittel angewiesen und daher auf ihre Finanzgebarung sehr bedacht. Das gibt der vorwaertsstrebenden neuen Musik einen vorerst eher bescheidenen Spielraum, denn schon seit jeher war neue Musik, um de- rentwillen die Geschichte der Musik ueberhaupt der Beachtung wert ist, zur Zeit ihrer Entstehung nicht besonders zugkraeftig. Das faellt in einer Epoche, in der nur der Massenabsatz die gewaltig gestiegenen Produktionskosten rechtfertigt, mehr denn je ins Gewicht.

    Zweifellos wird frueher oder spaeter eine Wendung eintreten, und zwar unter dem Druck der schoepferischen Kraefte Amerika. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Musikschaffen Amerikas keine besondere Bedeutung. Von den vor 1900 ge- borenen Komponisten ragen nur zwei hervor: Charles Ives und Carl Ruggles, beide Altersgenossen von Arnold Schoenberg. Beide sind sehr frueh mit hoechst interes- santen, aufregenden Arbeiten von revolutionaerer Kuehnheit hervorgetreten, jedoch lange Zeit ganz isoliert geblieben. Erst die Generation von 1890 bis 1900 hat eine Reihe von erheblichen Komponisten hervorgebracht, die durch das relative Gewicht ihrer Produktion eine bis dahin unbekannte Stosskraft entwickelten. Ich nenne hier die Namen Roger Sessions, Aaron Copland, Walter Piston, Roy Rarris, Virgil Thomson, George Antheil. Ihre Musik ist sehr unterschiedlich in ?Charakter und ebenso mag man die Qualitaet ihres Schaffens sehr verschieden beurteilen. Die meisten dieser Musiker haben sich an französischen Vorbildern und an Stra- winsky geschult, vielfach in Paris selbst studiert. Der stilisiert-naive, oft

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    verspielte Dadaismus Thomp Thomsons kontrastiert mit dem massiven manch- mal feierlich oeden Stil von Roy Harris, die elegante und weltweise Glueck Cop- lands mit dem gediegenen, etwas trockenen Akademismus Pistons. Antheil schreibt eine Art frisch bewegter, nicht sehr tiefer Gebrauchsmusik, waehrens Sessions, vielleicht der gewichtigste von ihnen, dem an dem Schoenberg-Erlebnis geschulten zentraleuropaeischen Empfinden am naechsten steht. Aehnliche Tendenzen finden sich in seiner juengeren Generation, die zum Teil bei den frueher genannten Autoren in die Schule gegangen ist. Grosse Hoffnungen mag man in die Gruppe der Zwanzig- bis Dreissigjaehrigen setzen, die der nationalistisch betonten Haltung mancher ihrer Vorganger schon entwachsen sind und sich einen freieren Blick auf die neuen Stroemungen der Weltmusik gewonnen haben. Ihre Namen sind noch weni- ger bekannt und sie werden es gewiss nicht leicht haben, aber wir muessen nicht vergessen, dass die Musikgeschichte auf den Schreibtischen der Komponisten und nicht in den Bureaux der Agenten gemacht wird.

    Alle diese Komponisten haben sich auf allen Gebieten der Musik betaetigt, am zaghaftesten zunaechst noch in der Oper. Das liegt daran, dass es noch keinen vollentwickelten und leistungsfaehigen Produktionsapparat der Oper gibt. Aber auch hier wandeln sich die Dinge schnell. Viele Universitaeten haben sich mit Begeisterung und grossem Erfolg der Pflege des musikalischen Theaters gewidmet, und wenn auch zunaechst Werke von grosserem Kaliber nicht gebracht werden koennen, so kann fast jeder amerikanische Komponist heute sicher sein, dass seine Experimente in der Kammeroper irgendwo zur Diskussion gestellt werden. Hier unterstuetzt die oeffentliche Hand, sozusagen ohne es zu merken, doch die Musik- pflege sehr erheblich, denn die Staatsuniversitaeten, die in dieser Bewegung an der Spitze stehen, werden aus Steuergeldern erhalten.

    Mann kann wohl sagen, dass ein Beobachter im Jahre 1851 sich in seinen kuehnsten Traeumen auch nicht im entferntesten eine Vorstellung von der Intensitaet und Reich haltigkeit des heutigen amerikanischen Musiklebens haette machen koennen. Wenn sich die Dinge auch nur halb so schnell weiter entwickeln, so kann Amerika zweifellos eine fuehrende Stellung in der Musik einnehmen. Wie schon gesagt, bin ich ueberhaupt ueberzeugt, dass das in erster Linie von den amerikanischen Komponisten abhaengen wird. **********

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Vortrag für Salzburg

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    4

    Signatur

    LM-194-02

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Musikleben
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