[Zeit und Musik, Zwölftontechnik und Tonreihe]

Abstract

Die in diesem Dokument formulierten Textteile dienten offenbar als Notizen für einen nicht eindeutig identifizierbaren, ungefähr Mitte der 1960er Jahre gehaltenen Vortrag über serielle Verfahrensweisen. Anhand seiner eigenen Werke (Sestina, op. 161, die Opern „Ausgerechnet und verspielt“, op. 179 und „Der goldene Bock“, op. 186) erläutert er, wie inhaltliche Details der Texte mit musikalischen Verfahrensweisen korrespondieren.

Verweise auf Passagen anderer Texte, die entsprechend in diesem Vortrag integriert werden sollten, bzw. den Vermerk „Inhalt erzählen“ am Beginn des Abschnitts über „Ausgerechnet und verspielt“ lassen vermuten, dass es sich bei diesem Dokument um eine Entwurfsfassung handelt.

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    In meinen Arbeiten aus den letzten zehn Jahren spielt das Konzept der Zeit eine dominierende Rolle. Das hängt damit zusammen, daß ich mich in meiner Musik mehr und mehr mit den seriellen Verfahrensweisen beschäftigt habe, die sich wieder dadurch auszeichnen, daß hier die Einordnung der Zeitdemension in die rechenmäßige Vororgani- sation der Musik einen ganz neuen Charakter gibt.

    Ich will versuchen kurz zu erklären, was es damit auf sich hat. [Zwölftontechnik - Tonreihe gegeben, alles andere frei. Dagegen Reihentechnik.] Als ich nach längeren Experimenten mir zutraute, ein total durchorganisiertes serielles Werk zu schreiben kam mir der Zufall bei der Wahl des Gegenstandes zu Hilfe. Als ich 1957 an der Universität Princeton ein kunstkritisches Seminar abhielt, wobei ich auch die serielle Musik besprach, fand sich einer der Lite- raturprofessoren, die daran teilnahmen, an die poetische Form der Sestina erinnert und machte mich damit bekannt. Alsbald beschloß ich, meiner ersten seriellen Komposition ein solches Gedicht zu Grunde zu legen. Melos Text bis Beisp. 1

    Jede dieser Sechsergruppen wird nun so permu- tiert wie die Reihe der Schlüsselworte des Gedichts, also durch paarweise Vertauschung der Töne gegen die Mitte. Die so entstehenden abgeleiteten Gruppen werden nun so kombiniert, daß für jede der 36 Zeilen des Gedichts eine andere Konfiguration zur Verfügung steht.

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    Die Zeitwerte, die den einzelnen Tönen zugeordnet sind, also wann jeder Ton eintreten und wie lange er dauern soll, sind durch Berechnungen, auf die ich hier nicht eingehen will, aus den Maßzahlen der Intervalle zwischen den Tönen der Zwölftonreihe ermittelt. Die serielle Regelung erstreckt sich ferner auf die Verteilung der Töne in hohen, tiefen und mittleren Registern, auf den Grad der Dichte des Gefüges, auf Tempo und Dy- namik, d. h. für alle diese Sektoren sind Reihen bestimmter Werte aufgestellt, die wiederum in einer nach der früher beschriebenen Rotation bestimmten Reihenfolge angewendet werden. Melos Text von "Weitere Parameter ..." bis inkl. Text.

    Die Symbolik des Gedichtes wird nach dem Gesagten wohl ziemlich klar sein: der "Strom" ist das Sinn- bild des vom Zufall durchwalteten, unvorhersch- baren Lebens, die "Zahl", das "Maß" sind die Kristall- haften, starren Elemente, die den Strom bändigen und ordnen, aber gerade dadurch dem Zufall wieder das Tor öffnen.

    Vortrag Text S. 4 - 5 mit insert bis "Universums". Dann "Nach diesen Übungen"... bis Beisp 5 bis S. 6. "heimgesucht" 3

    Die Sestina war von einer Gruppen von Werken gefolgt, in der die Reihentehnik mit Die Intrige wird auf folgende Weise in Bewegung gesetzt: Inhalt erzählen

    Wenn sich die Paare in der neuen Konstellation also sozusagen, seriell vertauscht zusammenfinden und sagen: "So sind wir endlich glücklich, bis sich das Rad wieder dreht", singt eine unsichtbares Wesen diesen Kommentar: Wie sie's verdient, ist's ihnen ausgegangen. Verlust, Gewinn - war alles nur ein Zufall: zwar ausgerechnet, aber sehr verspielt. in diesen drei Zeilen die Moral oder Unmoral des Spielchens und das Wortspiel des Titels zusammen- fassend. Diese drei Zeilen sind aber auch die Tornada einer nicht vorhandenen Sestina. Die Schlüssel worte sind "dient, gegangen, Gewinn, Zufall, gerechnet verspielt". Durch ihre Stellung in der Tornada ist aber auch ihre Reihenfolge in den einzelnen Strophen gegeben. Nun schrieb ich, gewissermaßen als Fleißaufgabe, sech 36 Zeilen mit zugehöriger Musik, je 6 für jedes Schlüsselwort, ohne jedoch festzulegen, welche Zeile in welcher Strophe zu stehen kommen sollte. over Die Aus- wahl einer bestimmten Kombination aus der riesigen Anzahl der möglichen sollte dem Zufall anvertraut werden, d. h. von Fall zu Fall durch die Lotterie bestimmt werden. Ein Rouletterad das sich ja besonders empfohlen hätte, weil

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    es 36 Zahlen hat, kommt nicht in Frage, ebenso wenig die aleator buchstäbliche aleatorische Me¬ thode, nämlich das Werfe Rollen der Alea, des Wür- fels, da sich bei beiden Verfahren Zahlen mehr als einmal vorkommen können. Man muß also Zahlen aus einer Schale ziehen und weglegen. Bei der Fernsehproduktion der Oper wurde von dieser Spielerei abgesehen, da man befürchtete, sie würde die Zuschauer konfus machen. Wir haben sie diese Roulette Sestina aber neulich in einem Saal in Mann- heim unter lebhafter Beteiligung und zum großen Spaß des Publikum zum ersten Mal auf- geführt.

    Vortrag S.8, nach Beisp. 7 on to p. 5 - Die Zeilen selbst sind paradoxale Verdrehungen von Sprichwörten wie z. B. "Gewagt ist halb zerronnen, frisch verspielt" oder Wortspiele mit den Schlüsselwörtern, wie "Verlust bringt Leid, Verschmerzen ist Gewinn", "Verraten und verkauft - nicht unverdient", "Wir wissen nichts, doch haben wir's berechnet." Wer sich beherrscht, hat sich nicht gut bedient, und dergleichen. 5

    Wie man sieht wird hier auf das Vokabular der alten, seriösen Sestina zurückgegriffen. Dort heißt es "Das Ende naht. Wir haben keine Zeit". Hier antwortet der Chor, wenn Pelias ausruft "Auf ins Elysium! Wir haben keine Zeit zu verlieren," mit der Erklärung "Ihr habt keine Zeit, weil es keine mehr gibt." Auch das Wortspiel, das die Geschichte mit den abgelagerten Schichten des in der Zeit Geschehenen in Verbindung setzt, kehrt wieder. Das Gegen- satzpaar "verdunkelndes Wort und schweigendes Licht" spinnt das paradoxe Element der Sestina weiter. Hier in dieser Welt benützen wir das Wort, um uns zu verständigen, aber statt den Sinn zu erhellen, scheint die konfuse Sprache mit ihren semantischen Problemen ihn zu verdunkeln. Die Ewigkeit ist definiert als der Zustand, in dem nichts mehr geschieht, so daß es keine Zeit gibt, da diese nur an dem erkannt werden kann, was in ihr geschieht. Die Oper endet denn auch bei strahlend hell erleuchteter, aber völlig leerer Bühne, während die Musik zerrinnt, zerbröckelt, zerfällt und in Schweigen übergeht. In der Fabel selbst ist die Zeit so relativiert, daß man nicht mehr sicher weiß, ob sie vorwärts oder rückwärts geht. Die alten Griechen schrei sprechen über sich selbst, als ob sie wüßten, was wir von ihnen denken werden. Die aus einem prähistorischen Drachen in unserer Gegenwart zu einer Indianerprinzessin ent- zauberte Medea zitiert sich selbst an einem

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    entscheidenden Punkt in Griechisch, um Jason zu gewinnen überreden, und wenn er sie nicht versteht, sagt sie etwas gekränkt: "Euer Euripides läßt mich das sagen". Worauf Jason: "Ich kenne ihn nicht. Wahrscheinlich nach meiner Zeit - welche das auch sei".

    Wohin diese Präokkupation mit der Zeit führt, läßt sich nicht voraussagen, nicht einmal mit einer elektronischen Rechenmaschine. Nur die Zeit kann es ausweisen.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    [Zeit und Musik, Zwölftontechnik und Tonreihe]

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    6

    Signatur

    LM-181-03

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Serielle Musik, Oper
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