Über eigene Werke

Abstract

Der folgende Vortrag wurde von Krenek als Einführung in eine Studioveranstaltung des Nordwestdeutschen Rundfunks am 7. Dezember 1951 in der Sendereihe „Das neue Werk“ gehalten. Krenek wirkte in dieser Veranstaltung auch als Dirigent und Pianist seiner eigenen Werke. Das Programm stellt die aus einer frühen, atonalen Schaffensperiode stammende Symphonische Musik op. 11 (1923) zwei zwölftönigen Sonaten (3. Klaviersonate, op. 92 Nr. 4; Sonate für Violine und Klavier, op. 99) gegenüber. Krenek bespricht die Werke sowohl hinsichtlich ihrer unterschiedlichen handwerklichen Gestaltungsprinzipien verortet sie aber auch im biographischen Entstehungskontext. Dabei grenzt er die im Programm gespielten Werke (und auch sich selbst) von seiner kurzen, auf Schubert zurückgreifenden neoklassizistischen Schaffensphase ab, und verteidigt gerade die Zwölftonmethode gegen häufig bemühte Vorwürfe.

    Vortrag für Hamburg Über eigene Werke Krenek lect

    Die Werke von mir, die Sie heute abend hören sollen, liegen ihrer Ent- stehungszeit nach sehr weit auseinander. Die Symphonische Musik für 9 Solo Instrumente war für aus zweite Musikfest von Donaueschingen ge- schrieben, das vor 28 Jahren stattfand, während die beiden Sonaten aus den letzten Jahren stammen. Wenn Sie diese Werke in ihrer Tonsprache vergleichen, so mag der Zeitunterschied vielleicht nicht besonders ins Auge fallen. Es scheint ein gerader Weg von den früheren Arbeit zu den späteren hinzuführen. In Wahrheit ist das keineswegs der Fall.

    Als ich die Symphonische Musik schrieb, habe ich meine formalen Studien an der Berliner Musikhochschule gerade zum Abschluß ge- bracht, wenn man das so nennen kann. Denn eigentlich war ich aus der Schule schon herausgewachsen, ehe man mir noch mein Diplom überreichte. Solange ich mich im engeren Kreis meines Lehrers, Franz Schreker, aufhielt, hatte ich mich in einem spätromantischen, mit impressionistischen Zutaten leicht gewürzten Stil auszudrücken gelernt. Als ich in 1920 von Wien nach Berlin kam, machten sich neue und bisher unbekannte Einflüsse geltend. Alsbald bemächtigte ich mich der mehr aggressiven Schreibweisen der fortschrittlichen Musik, und als ich mit meinem ersten Streichquartett und meiner ersten Symphonie unerwartete Erfolge erzielte, entwickelte ich einen geraderen fieberhaften Arbeits- eifer. Ich schrieb Musik in solchen Mengen, daß es mir heute fast rätselhaft erscheint, wie es möglich war, auch nur die reine Schreib- arbeit in so kurzer Zeit zu bewältigen. Dieser Periode gehört die symphonische Musik für 9 Instrumente an.

    Das Stück hat die Kennzeichen des frühen atonalen Stils, wie er damals aus den Werken des mittleren Schönberg und Bartok bekannt war, das heißt, die Musik läßt sich auf kein bestimmtes, tonales Zentrum eindeutig zurückführen, und sie bedient sich nicht der Prinzipien Mittel der Funktional-Harmonik, der um Zusam- menhang herzustellen. Über den Begriff der Atonalität ist viel diskutiert worden, und die das Wort sowohl als die Sache, die es bezeichnet, wurde fast von jedermann abgelehnt. Die Sache, nämlich die Musik, die unter diesem mit dem Wort atonal be- zeichnet wird, abzulehnen, steht ja d jedem frei, obschon es noch niemandem gelungen ist, noch gelingen wird, diese Musik aus der Welt zu schaffen. Das Wort "atonal" mag als eine unlogische Sprachbildung kritisiert werden, solange man unter Tonalität, jede mögliche Art von musikalischem Zusammen-

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    hang versteht. In diesem Fall kann es natürlich keine atonale Musik geben, oder das, was so bezeichnet wird, ist keine Musik Genau diese logische Falle wurde von dem Mann bezweckt, der das Wort "atonal" erfand - es war nicht etwa einer der Komponi- sten die diese Musik praktizierten, sondern ein Kritiker, der seinem Mißfallen und seiner Erbitterung über diese Musik bleibenden Ausdruck verschaffen wollte, was ihm ja auch gelungen ist. "Atonal" ist ein meisterhaft diabolisch entworfenes Propagandaschlag- wort, das den späteren Großmeistern des Faches alle Ehre gemacht hätte. Da es aus dem öffentlichen Bewußtsein und der musikalischen Diskussion nicht mehr eliminiert werden kann, ist is besser, es zu akzeptieren und ihm einen brauchbaren Sinn zu geben. Das ist durchaus möglich, wenn man dem Begriff den Tonalität jenen engeren technischen Sinn unter- legt, der den Musikern seit jeher geläufig war. Wenn wir nämlich als tonal die in der Funktionalharmonik der Dur- und Moll- Modalität organisierte Musik der letzten 350 Jahre bezeichnen, so können wir ohne in Furcht und Schrecken zu geraten, uns sehr wohl vorstellen, daß es eine Musik geben mag, die anders organisiert ist, und es steht uns frei, diese als atonal zu bezeichnen.

    Wenn ich meine Symphonische Musik jetzt aus der Distanz betrachte, so zeigt sich, daß die wesentlichen Faktoren, die in diesem Stück Zusammenhang herstellen, zwei sind, nämlich, rhythmische Einheitlichkeit und Im imitatorische polyphone Technik. Die Form der beiden Sätze folgt nicht so sehr dem Prinzip Modell der in der klassischen Musik entwickelten vorherrschenden, Sonaten- form, sondern eher einem zyklischen Prinzip, das einen Ge- danken nach dem anderen frei entwickelt und nur gele- gentlich auf früher Gesagtes deutlich zurückgreift. Fast jede Idee wird imitatorisch dargestellt, d. h. eine Stimme nach der an- deren greift das sein melodisch erfundene Thema auf und führt es in einem immer dichter werdenden kontrapunkti- schen Gewebe durch. Die Einheit des Ganzen ist durch elemen- tare rhythmische Gestalten gewährleistet, die dem totalen Pro- zess unterliegen und sich oft zu ostinato Wirkungen steigern, wenn die rhythmische Figur wie ein Orgelpunkt konstant

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    wiederholt wird. Das ist besonders augenfällig im ersten Satz, doch läßt lassen sich diese Gestaltungsprinzipien auch in dem an sich lockerer gefügten zweiten Satz klar erkennen. In der damals bekannten atonalen Musik der Schönberg Schule waren waren diese Faktoren noch wenig in Erscheinung getreten, obschon die rhythmischen Elemente von Bartok und Stravinsky in die neue Musik ein- geführt worden waren. Das Imitationswesen ist damals auch von Hindemith in seinen sehr zur Atonalität neigenden frühen Werken aufgenommen worden.

    Um die Mitte der zwanziger Jahre setzte jene Reaktions- bewegung ein, von der man hoffen kann, daß sie in diesen Tagen zu einem Ende zu kommen scheint wird. Die Reaktion hat alle Gebiete ergriffen, wie wir wissen. Die Amerikaner haben da- mals das sprachlich bedenkliche Schlagwort "return to normalcy" geprägt und damit klar angedeutet, worum es sich handelte. Rückkehr zur guten, alten Zeit. Genug Revolution und Chaos - Ordnung und Disziplin sollten wieder herrschen. Was für Segnungen diese Bewegung im sozialen und politischen Leben auf uns heruntergebrachte hat, wissen wir alle noch nur allzu gut. In der Musik löste sie den Neoklassisismus aus ab, der zum erfolgreichsten Stil des zweiten Viertels unseres Jahrhunderts werden sollte. Stravinsky hat den Reigen begonnen und damit mit seiner Pulcinella-Suite die lange Reihe seiner Maskenstücke eröffnet, in der denen er sich zum Erg intel- lektuellen Ergötzen der Kenner mit Blitzesschnelle hinter blitzschnell wechselnden Verkleidungen versteckt. Für lange Zeit sind ihm hier fast alle westlichen Komponisten gefolgt und man verdankt dieser Richtung eine Unzahl mehr oder weniger eliganter, brilliant orchestrierter, in einigen Fällen unterhaltender, aber sch fast stets spielerischer und gewichtloser Kompositionen. Der deutsche Neoklassizis- mus war dem Nationalcharakter entsprechend mehr ar- beitsam und angestrengt und suchte, durch die Rückkehr zu den musikalischen For Formen der vorklassischen Zeit einen Gesellschaftszustand heraufzubeschwören, in dem die so bedrohlichen Krisensymptome unserer Zeit nicht vorhanden, gewesen zu sein schienen. Obwohl das unter der Devise der Kampfansage an die Romantik geschah, lag dem Ganzen doch

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    die sehr romantische Vorstellung zugrunde, daß wenn man nur mit Entschlossenheit so täte, als ob nichts geschehen wäre, man das Ge- schehene vielleicht ungeschehen machen könnte.

    In allen diesen Bestrebungen handelte es sich im rein mu- sikalischen Sinn um Reaktion, denn ihnen allen war gemeinsam eine Abwendung von der neuen, sogenannt atonalen Tonsprach und eine Wiederbelebung tonsprachlicher Elemente der Ver- gangenheit, mit verschiedenen Vorzeichen und zu verschiedenen Graden. Die modernen Errungenschaften, d.h. hauptsächlich die Dissonanzen, wurden nicht ganz aufgegeben, aber im Wesentlichen mehr als pikante Zutaten denn als Grundsubstanz verwendet.

    Ich selbst habe mich dem neoklassischen Stil in einigen wenigen Arbeiten um 1924 ein wenig angenähert. Von der reakti- onären Welle bin ich keineswegs freigeblieben, doch ging ich nicht so weit zurück wie die anderen, dafür aber umso gründlicher, indem ich bei Franz Schubert landete. Damals legte ich mir eine Philosophie der Musik zurecht, nach welcher es möglich sein sollte, das alte Vokabular in einem genauen, unverstellten, und ungetrübten Sinn zu verwenden, wenn man durch ein neues Urerlebnis seines ursprünglichen Wesens wieder hab- haft werden konnte. Was ich mir unter dem Urerlebnis vor- stellte, ist mir nicht mehr recht klar, und ich weiß nicht, ob es mir damals klar war. Meine Werke von "Jonny spielt auf" bis zum "Reisebuch aus den österreichischen Alpen" und "Leben des Orest" sind der Ausdruck dieser Wendung um 180 Grad. Der fortschrittlich anmutende Bühnerzauber und die entfesselte Theatermechanik von "Jonny" kann nicht darüber täuschen, daß es sich um ein echt romantisches Stück handelt, das dem himmlischen Zauber der Schubertschen Tonalität willenlos hingegeben ist. Daß diese Stücke bis mehr heute noch eine erstaunliche Vitalität zeigen, mag darauf hindeuten, daß mir doch irgendeine Art Urerlebnis gelungen ist, was immer es gewesen sein mag.

    Wenn Sie heute abend meine späteren Werke hören, würde ich gern wissen, so Sie aus ihnen entnehmen könnten, daß ich durch jene romantische Periode überhaupt hin-

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    gegangen bin. Ich weiß, daß manche Beurteiler den Bruch so er- heblich finden, daß sie ärgerlich erklären, man könne mir überhaupt nichts glauben. Andere sagen, daß ich im Wesentlichen überhaupt nie von jemand anderem als Franz Schubert beeinflußt worden sei, gleichgültig in welchen Stil ich schreibe. Ich kann das selbst nicht klären, obschon es mir scheint, daß die neuen Werke jedenfalls sehr anders klingen als die der romantische Zwischenperiode und in manchen Punkten eher an die Frühwerke erinnern.

    Der wesentliche Berührungspunkt ist wohl die Tonsprache. Auch in den neuen Werken ist sie atonal, insofern als die Dur- und Moll- Tonalität nicht vorhanden ist und die Klangelemente, die Akkorde, nicht durch funktional-harmonische Beziehungen miteinander zusammen- hängen. Der Zusammenhang ist hier durch eine besonders dichte motivische und thematische Verflechtung hergestellt, und die be- sondere Dichte dieses Gewebes beruht darauf, daß alle Elemente der Musik auf aus Grundgestalten entwickelt sind, die alle zwölf Töne in einer bestimmten vorgeordneten Reihenfolge enthalten. Mit anderen Worten, diese Werke bedienen sich der sogenannten Zwölftontechnik.

    Geistesgeschichtlich gesehen, ist repräsentiert die Zwölftontechnik den Anteil der fortschrittlichen Komponisten unserer Zeit an der Konsolidierung aller Belange, die die früher besprochene Re- aktionsbewegung mit sich gebracht hat. Ordnung und Disziplin sind Begriffe, die sehr häufig im Zusammenhang mit der Zwölftontechnik gebraucht werden. Daß dieser Be- Schritt nicht getan wurde, um die atonale Musik äußerlich er- folgreicher zu machen, liegt auf der Hand. Jene, die auf jeden Fall dagegen sind und die frühe atonale Musik abge- lehnt haben, weil sie durch rücksichtslose Verwerfung aller Regeln anarchisches Chaos geschaffen habe, lehnen sie jetzt ab, weil sie sich durch die Zwölftontechnik in eine intellektuelle Zwangsjacke mathematisch erklügelter Formeln habe einpferchen lassen. Vielleicht lohnt es sich nicht sehr, solche Kritik zu widerlegen zu wollen, da man jemanden, der etwas nicht mag, kaum durch logische Gründe dazu bringen kann, es zu mögen. Da aber die Ablehnung vielfach nicht instinktiv, sondern auf Vorurteilen und Fehlmeinungen begründet ist, mag es bis zu einen gewissen Grad nützen, die Vorurteile zu beseitigen.

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    Daß zum das Komponieren von Musik intellektuelle Arbeit erfordert, hat man zu allen Zeiten gewußt und eigentlich nur im 19. Jahrhundert öffentlich nicht zugeben wollen. Die romantischen Komponisten haben ebensoviel Geistesarbeit geleistet wie alle anderen, nur war es zu ihrer Zeit modern, die ungezügelte Inspiration in den Vordergrund zu stellen und so zu tun, als ob das Musikwerk in einem heiligen Rausch, ohne Appell an die ordnende Intelligenz, hingeschrieben worden sei. Die Täuschung war möglich, da die Ordnungsprinzipien der Tonalität so sehr zur zweiten Natur geworden waren, daß der Außen- stehende zur Annahme gelangen mochte, sie seien dem normalen Menschen angeboren und könnten daher ohne Nachdenken gehandhabt werden. In Wahrheit sind die Konventionen der tonalen Funktional-Harmonik ein äußerst kompliziertes System, dessen Beherrschung großer Übung bedarf. Den Musikern der romantischen Periode fiel das relativ leicht, weil ihre Dis- position auf die tonale Tonsprache angelegt war. Es unter- liegt keinem Zweifel, daß das musikalische Bewußtsein jüngerer Generationen anders strukturiert ist, und viel stärken auf das lineare Moment in der Musik, auf ihre melodische Dimension gerichtet ist. Ihnen erscheinen die Ordnungen der alten Har- monielehre immer problematischer, während sie sich in einer von den Fesseln der Tonalität befreiten polyphonen Setz- weise erheblich spontaner ausdrücken können. Ich habe das im Unterricht immer wieder beobachten können.

    Was nun die Zwölftontechnik als solche betrifft, so kann sie nur einem sehr oberflächlichen Blick als ein mathematisch gebundenes System sich darstellen. Ich glaube, daß dieser Vorurteil sich im Wesentlichen darauf zurückgeht, daß in der Bezeichnung dieser Technik ein Zahlwort vor- kommt. Wenn man dieses Verfahnen etwa als "Kompo- sition mit Grundgestalten" bezeichnet hätte, würde der Name ganz andere Assoziationen hervorrufen und kein Mensch würde an Mathematik denken.

    In Wirklichkeit geschieht hier nichts anderes, als daß das Material der atonalen Musik, die zwölf Töne, in einer

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    bestimmten, jedesmal neu gewählten Weise angeordnet werden, als ein Grundmotiv sozu- sagen, das durch Aufteilung in kleinere Segmente, abgeleitete Variationsformen und Kombination aller dieser Elemente die Bausteine für die eigentliche Kompo- sition liefert. Das ist keineswegs eine neuer Verfahrens funkelnagel- neue Idee. Das Prinzip der Keimzelle, aus der der Gesamtorganis- mus des Werkes sich entwickelt, kann aufs deutlichste in Beetho- vens Spätwerken, besonders den letzten Quartetten, beobachtet werden, es kann auf Bach zurückgeführt werden, und tritt besonders klar in Erscheinung in der Cantus firmus Technik des 15. Jahrhunderts und in dem isorhythmischen Prinzip des 14. Die melodischen Abwandlungen, denen die Zwölftonreihen unterworfen werden, können in der ungeheuer subtilen mal Gestaltungsweise des Gregorianischen Chorals gefunden werden. Freilich, wenn man diese historische Perspektive aufrollt entwirft, kann man dann oft genug den Einwand hören "Aha - die Herren wollen sich wohl historisch rechtfertigen, da sie ein schlechtes Gewissen haben, jedoch alles, was man aus ihren Geschichtsbe- trachtungen klitterungen entnehmen kann, ist, daß die Zwölftontechnik nicht einmal etwas Neues ist. Nun, wie schon gesagt, wer beschlossen hat, dagegen zu sein, wird seine Abneigung immer irgendwie zu rationalisieren wissen, und das Beste ist vielleicht ihn allein zu lassen.

    Ein ernsterer Einwand ist, daß die Einheitlichkeit des Musikwerkes, um derentwillen die Zwölftontechsich offenbar erfunden werde, auch ohne diese erzielt werden kann, da der Komponist, wenn sein Wille auf Einheitlichkeit gerichtet ist, ja ohnedies alle Mittel zur Verfügung hat, um sie zu verwirklichen, und da diese Einheitlichkeit in den Werken vieler großer Meister ohne Zwölftontechnik zustande gekom- men sei, so könnten es die zeitgenössichen Komponisten ebenso versuchen. Dagegen ist nichts zu sagen, außer daß, wenn wir anerkennen, daß dem Komponisten alle Mittel zur Ver- fügung stehen, sich unter diesen auch die Zwölftontechnik befindet, und wenn es ihm aus irgendeinem Grunde prak- tisch erscheint, dieses ganz bestimmte Mittel zu benützen, so spricht das nicht gegen ihn, insofern als sich das Mittel zur Schaffung lebendiger Musik als zweckmäßig ausweist.

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    Die historische Situation hat es nahe gelegt, sich Die Situation, die sich bei der Erschließung des atonalen Neu- landes ergab, hat es nahegelegt, die gewünschte Einheitlich- keit zunächst mit besonders starken, tief eingreifenden Mitteln anzustreben. Das mag nach einer gewissen Zeitspanne nicht mehr als zwingende Notwendigkeit erscheinen, ja man kann sich auch vorstellen, daß das Ideal der streng gefügten logischen Einheitlichkeit sich wandelt und anderen Vorstellungen Raum gibt. Wesentlich scheint jedoch, daß ein neuer Anfang nicht unter Umgehung der Erfahrungen von Atonalität und Zwölftonmusik gemacht wird, wie es die Neoklassizisten versuchen, sondern auf diesen Erfahrungen begründet ist. Solange Ordnung und Disziplin als erstrebenswert gelten, erscheint die Zwölftontechnik trotz ihrer regressiven Züge als eine fortschrittliche Bewegung, da sie eine neue Ordnung verspricht und nicht auf die Wiederherstellung der äußeren Facade vergangener Architekturen abzielt.

    Die zwei Sonaten, die Sie später hören werden, bedienen sich einer Form der Zwölftontechnik, die von den ursprünglich bei Schönberg, Berg und Webern verwendeten Prozeduren eini- germaßen abweicht. Eine technische Erläuterung würde in diesem Rahmen zu weit führen und wäre ohne Demonstrations- beispiele gar nicht möglich. Es ist häufig eingewendet worden, daß die Wiederaufnahme der Sonatenform dem Wesen der atonalen Zwölftontechnik widerspreche, weil die Sonatenform mit der Essenz der Tonalität unauflöslich verknüpft sei. Das ist in einem strengen Sinn vielleicht richtig, doch scheint mir der Begriff der Sonate schon bei Beethoven mehr zu decken als das traditionelle Schema des Lehrbuchs. Wenn man ein großangelegtes Werk, in welchem kontrastierendes Themenmaterial nach dem von Schönberg so genannten Prinzip der progressiven Variation entwickelt ist, als Sonate bezeichnen darf, so können solche Werke gewiß in jeder Tonsprache entstehen.

    Für mich selbst will ich noch einzufügen, daß ich durchaus nicht in allen meinen späteren Arbeiten das Bedürfnis emp- funden habe, die Zwölftontechnik anzuwenden. Da ich in allen

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    diesen Werken bisher die vorher diskutierte Ein- heitlichkeit der Faktur angestrebt habe, glaube ich kaum, daß die Kompositionen, denen Zwölftonreihen form durchgehend zugrunde liegen, sich von den anderen wesentlich unterscheiden.

    Zuletzt darf ich noch meiner Genugtung darüber Ausdruck geben, daß ich Ihnen im Rahmen des "Neuen Werks" diesen Ausschnitt aus meinem Schaffen und Denken übermitteln darf. Wie ich aus den Programmen ersehe, ist das "Neue Werk" mit großem Erfolg bemüht, Ihnen E wesentliche Einblicke in die schöpferischen Prozesse unserer Zeit zu gewähren. Das ist ein Privileg, um das die Öffentlichkeit in und besonders außerhalb die an solchen Dingen interessierten Hörerkreise der ganzen Welt Sie wohl beneiden können.

    Jedoch, genug der Worte - lassen Sie uns jetzt Taten sehen und Musik hören.

    Ganz allgemein glaube ich, daß es in einer Zeit, die so viele Kerker der verschiedenen Art für die Menschen bereit hält, wahrhaftig nicht nötig ist, daß sich jemand seinen eigenen Kerker baut, am allerwenigsten der Künstler, dessen vornehmste Aufgabe es ist, dem Traum der Freiheit prophetische Gestalt zu verleihen.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Über eigene Werke

    Untertitel

    Vortrag [für eine Radiosendung] für Hamburg

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    9

    Signatur

    LM-181-01

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Zwölftontechnik, Neuklassizismus
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