[Vortrag für eine Radiosendung des WDR Köln über Sprache und Musik in Zusammenhang mit elektronischer Musik]

Abstract

In seiner umfassenden Reflexion über Sprache und Musik für das Nachtprogramm des WDR (vermutlich gesendet im Frühjahr 1971) analysiert Ernst Krenek unterschiedliche Qualitäten von Sprache (zB. Bedeutung der Worte vs. phonetische Gestalt) und stellt diesen kompositorische Prozesse gegenüber. Am Beispiel seiner Werks Quintina, op. 189 zeigt er, wie er serielle Strukturen sowohl für den zugrundeliegenden Text als auch für die musikalische Umsetzung davon angewendet hat. In einer historischen Selbstverortung stellt Krenek die in dem parallel entstandenen Werk Quintona, op. 190 angewendeten elektronischen Klänge als Konsequenz serieller Kompositionsverfahren dar und beschreibt außerdem die jüngsten Weiterentwicklungen hin zur computergestützen Komposition mittels Lochkarten.

    WDR Nachtprogramm

    Im Herbst 1965 kam ich in einem Vortrag, der die Beziehungen von Sprache und Musik zum Gegenstand hatte, auf die jüngsten Ent- wicklungen des Komponierens zu sprechen und versuchte darzutun, daß Musik, die durch Jahrhun- derte einen sprachähnlichen Habitus aufwies, sich vor allem in der späteren Zwölfton- und seriellen Technik mehr und mehr von diesem Charakter Gestalttypus entfernt, vor allem seit Diese neue Musik hat nicht mehr den Charakter eines von Anfang bis zu Ende, von Punkt zu Punkt in einer Richtung fortschreitenden Prozesses. Ihre Gestalten, obwohl in der Zeit verlaufend, werden eher als räumlich definierte Objekte empfunden, die von verschiedenen Richtungen betrachtet werden können. Daher sind diese Gestalten viel- fach so konstruiert, daß sie sich auch rückläufig bewegen können - ein bekanntlich besonders für den späteren Webern besonders charakteristisches Ver- fahren. Nun ist aber das Konzept des Rücklaufs der Natur der Sprache grundsätzlich entgegen- gesetzt, da es der Zielstrebigkeit des logischen Dis- kurses, dessen vornehmstes Mittel die Sprache ist, widerstreitet. Wohl ist das Palindrom als Sprach- figur bekannt, aber es hat stets den Charakter eines tour de force, eines Kunststücks, das der Substanz der Sprache mit Gewalt abgerungen ist, entweder zum Spaß, wie in der bekannten

    2

    Nonsens Zeile "Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie" oder mit orphischem Unterton wie in der berühmten lateinischen Zeile "Sator Arepo Tenet Opera Rotas", die Webern sein Leben lang fasziniert hat. Hier rettet nur Es bedarf angestrengter Spekula- tion, diesem Satz verschiedene mystische Deutungen zu unterlegen, um ihn vor dem Verdacht zu retten, das er vielleicht auch nur Unsinn ist. Musikalische Gestalten, die sich deren Ablauf zurückge- dreht werden kann, haben nicht jenen eloquenten Charakter, jene sprechende Expressivität, die man der in der älteren Musik so hoch ge- schätzten Melodie zuschrieb. Diese Melodie war ja auch meist dem Idealbild des menschlichen Gesanges nachgeformt und schon in dieser Weise dem Wesen des Sprach- lichen eng verwandt. Die Aus- drucksqualitäten der neuen Musik beruhen auf anderen Eigenschaften und werden daher oft nicht erkannt von Hörern, die sich von den überlieferten Assoziationen nicht losmachen wollen. Natürlich führt auch die Objektivierung des kompositorischen Prozesses, die in den Vorformungs- verfahren der seriellen Musik in Erscheinung hervortritt, zu jenen musikalischen Charakterzügen, die vielfach als Entpersönlichung empfunden werden, und auch darin zeigt sich die Tendenz zu einer Abwendung von den typischen Erscheinungs- formen des Sprachwesens.

    3'15" 3

    Ich sagte dann in meinem Vortrag: "Der Entfremdungsprozeß erreicht ein Extrem, wenn sich die Musik der Sprache bemächtigt, sie ihres Sinnes völlig entleert und als Material aus- beutet, in dem sie von der Substanz ihres Opfers lebt. Das geschieht in manchen Produktionen der elektronischen Musik, wenn aus Tonbandauf- nahmen gesprochener Texte einzelne Sprachatome, Silben, Vokale, Konsonanten isoliert und dann mit elektronischen Methoden verarbeitet werden. Durch Beschleunigung oder Verlangsamung können wir nicht nur die Tonhöhen, sondern auch die Klang- farben der ursprünglichen Elemente bis zur Un- kenntlichkeit verändert werden. Die so gewonnenen Klangbilder erinnern überhaupt nicht mehr an das ursprüngliche Material, nämlich die mensch- liche Stimme ... Wir sind hier in einem Gebiet an- gelangt, wo Musik, in ihrem allgemeinsten Sinne ein Ozean von wie immer organisierbaren Laut- und Klangphänomenen, die Sprache umschlingt, absor- biert und wieder entläßt."

    Diese Sätze, in denen ich also die Sprache ge- wissermaßen als einen Grenzfall der Musik darstellte, wurden auf absurde Weise mißverstanden, als ob ich mich hätte gegen die elektronische Manipulation von Sprachelementen verwehren, als ob ich die Sprache gegen ihre Mißhandlung durch elektroni- sche Vermusikalisierung hätte verteidigen wollen. Genau das Gegenteil war der Fall. Wenn durch die neuen, wirklich unerhörten elektronischen Verfahren ein Meisterwerk wie Herbert Eimerts

    4

    Epitaph zustande kommt, so hat die Musik aus der Sprache etwas gewonnen, das ihr auf keinem anderen Wege zugänglich war, und die Sprache hat dabei nichts verloren außer ihrer Funktion als Mittel zur Mitteilung begrifflicher Gehalte, was ja aber bekanntlich nur eine ihrer Funktionen ist — die best bekannte und am meisten ausgeübte, aber nicht die einzige und nicht eimal die höchst zu bewertende. Um diesen Verlust an Information zu beobachten, braucht man gar nicht so weit zu gehen als bis zur elektronischen Auflösung des linguistischen Mat- erials. Bei einem Lied oder einer Arie mit Orchesterbegleitung ist der Verlust fast immer total, und selbst bei Vokalstücken mit klar klarem und nicht zu lärmendem Klaviersatz ist die Einbuße meist sehr hoch, wenn auch nicht immer not- wendig. Mit anderen Worten: Sprache schenkt Musik das Wort, wird stumm im dunklen Klang, im Ton verweht ihr Sinn.

    Das aber sind die ersten zwei Zeilen eines Ge- dichts, in dem ich versucht habe, mich mit dem Problem von Sprache und Musik auf andere Weise. auseinanderzusetzen. Das Gedicht, das ich später auch durch Musik interpretiert habe hat fünf Strophen, jede Strophe fünf Zeilen, jede Zeile ist ein fünfhebiger Blankvers. Die erste Strophe geht so:

    Sprache schenkt Musik das Wort, wird stumm im dunklen Klang, im Ton verweht ihr Sinn. Signal, gekurvte Welle dringt ans Ohr. Im Autonomen suchen wir das Ende, doch es klingt als wär's ein neuer Anfang.

    5

    Das heißt, in Prosa ausgedrückt, ungefähr, daß die Sprache der Musik das Wort übergibt, und daß dieses dort verloren geht, indem es seinen begrifflichen Sinn verliert. Die Worte Signal und Welle deuten auf das elektroni an, daß das rein akustische, begriff- lose Medium des Tons an die Stelle der Information tritt. Diese Worte weisen auch auf das elektronische Gebiet hin. Die autonomen, begrifflosen Musik sehen wir den hat ihren Endzweck in sich selbst. Das Wort "Ende" ist aber doppelsinnig gebraucht. Es kann dahin gedeutet werden, daß manche Menschen hier das Ende der Musik sehen, während es anderen als ein neuer Anfang erscheint.

    Die zweite Strophe lautet: Es fließt beredt das Wort, ein muntrer Anfang. Nah dem Ziele werden Toren stumm. Man fragt sich nur: wie kommen wir zum Ende? jedoch nicht mehr: hat, was wir tun, noch Sinn? Strukturen, streng gereiht vernimmt das Ohr.

    Gedanklich spielen diese Zeilen auf die existen- tialistische Position an. Die letzte benennt aus- drücklich das Konzept der seriellen Musik - "Struk- turen streng gereiht". Man wird bemerkt haben, daß die Worte, die am Ende der Zeilen stehen, die gleichen sind wie in der ersten Strophe: Dort hießen sie: stumm, Sinn, Ohr, Ende, Anfang, hier ist es: Anfang, stumm, Ende, Sinn, Ohr. Die Stellung Reihenfolge der Worte ist so vertauscht, daß aus 12345 die neue Folge 51423 entsteht. Für die nächste Strophe wird das Vertauschungs- verfahren wieder so angewendet, daß man vom letzten Wort zum ersten und vom vierten zum zweiten springt, so daß das dritte als letztes bleibt, wie folgt:

    6

    Werk Werke des Zufalls scheinen sie dem Ohr. (nämlich die Strukturen streng gereiht) Absurd, vor dem Wort, Musik, der erste Anfang. Ungesagtes strebt durch Wort nach Sinn. Sprache schenkt Musik das Wort, wird stumm. Der Trauer bietet Trost der Klang am Ende.

    Hier kreuzen sich die beiden wesentlichen Gedankengänge des Gedichtes: die strenge Vorausbestimmung aller Elemente in der seriellen Musik öffnet dem Zufall ein Tor und führt zu einem Erlebnis läßt die allgemeine Erschei- nungsform dieser Musik wie Chaos anmuten. Die andere Idee ist, daß Musik genetisch vor der Sprache steht, d.h. Ausdrucksmittel eines Geisteszustandes ist, dem die logischen Mitteilung durch die Sprache noch nicht zugänglich aber auch nicht Bedürfnis ist.

    Es geht dann so weiter: Vorbestimmte Klangfigur: am Ende bedurfte jener Vokabeln das irdische Ohr, Doch wieder vergehn die Ordnungen, lassen uns stumm, zerlaufen, schmelzen wie das Wort am Anfang im dunklen Klang, im Ton verweht ihr Sinn.

    Die fünfte Strophe: Hat, was wir denken, trotz der Stummheit Sinn? Man fragt sich nur: wie kommen wir zum Ende? Die Rede floß mit Witz, ein guter Anfang. Jetzt braust der Sturm der letzten Angst im Ohr, und vor dem Ende wird der Weise stumm.

    Ein Abgesang wiederholt die erste Strophe und endet mit der Zeile: Absurd, prälogisch, steht Musik am Anfang.

    7

    Das Die Formel, nach welcher die Endworte der Zeilen Strophe für Strophe vertauscht werden, ist von der alten poetischen Form der Sestina abge- leitet. Diese hat sechs Zeilen in jeder Strophe und sechs Strophen. Da ich kein so langes Gedicht machen wollte, habe ich das Prinzip der Sestina auf eine fünfzahlige Struktur angewendet und das Resul- tat Quintina genannt.

    Zu bemerken ist noch, daß in jeder Zeile auf den fünf betonten Versfüßen alle fünf Vokale stehen, z. B. : Sprache schenkt Musik das Wort, wird stumm oder: Nah dem Ziele werden Toren stumm oder: Werk des Zufalls schein Vorbestimmte Klangfigur, am Ende und so fort. Auch die Positionen der Vokale innerhalb der Zeilen wechseln nach einem be- stimmten Rotationsprinzip. Das führt dann auch dazu, daß an gewissen Stellen einzelne Zeilen wörtlich oder etwas variiert wiederholt werden. Es läßt sich also sagen, daß die sprachliche Substanz in einem sehr hohen Grade seriell organisiert ist, da die Positionen gewisser Phoneme und Worte nach einem unabhängig vom Gedankengehalt des Gedichtes formulierten Prinzip vorausbestimmt wurden.

    Die musikalische Fassung des Gedichtes ist weniger kontinuierlich durchkonstruiert und zeigt größere Abwechslung in Material und Durcharbeitung. Als ich mich im Frühjahr 1965 mit der Komposition des Gedichtes befaßte, war ich mit der Herstellung elektronischer Musik im Studio der Brandeis Universität in

    8

    der Nähe von Boston, Massachusetts, beschäftigt. Darüber werde ich später noch mehr berichten. Es kam mir der Gedanke, in der Musik zu der Quintina auch elektronische Elemente zu verwen- den. Diese alternieren mit Passagen, die von einer Gruppe von Instrumenten - Flöte, Viola, Gitarre und verschiedenes Schlagwerk - gespielt ausgeführt werden. Die instrumentalen Sektionen sind wiederum bis zu einem gewissen Grade seriell organisiert, indem sie aus einer Kette von Abschnitten bestehen, deren jeder fünfzehn gleich lange Zeiteinheiten umfaßt. Diese Zeiteinheiten treten auf in Gruppen von ein, zwei, drei, vier und fünf (die Summe davon ist eben fünfzehn.) Die Reihenfolge der Gruppen ist jedoch in jedem Abschnitt anders, und zwar reguliert von der Quintina-Rotation, die ich früher erklärt habe. Wenn also im ersten Abschnitt die Gruppen einander folgen in der Reihe von einer 2, 3, 4, 5 und fünf Einheiten, so erscheinen sie im nächsten Abschnitt als 51423, und so fort. Nun ist aber weiters festgelegt, daß die dem Stück zu- grundeliegende Zwölftonreihe in jeder Gruppe je einmal durchgespielt wird. Das bedeutet, daß die zwölf Töne in einer Gruppe, die nur eine Zeiteinheit hat, einander sehr schnell folgen müssen, wobei mehrere auch gleichzeitig ertönen werden, während in der aus fünf Einheiten bestehenden Gruppe die Tonreihe viel mehr Zeit hat, sich zu entfalten, und daher viel gedehnter erscheinen wird. Mit anderen Worten: das Tonmaterial präsentiert sich in fünf verschiedenen Dichtegraden, deren Grup-

    9

    pierung und Reihenfolge nach dem vorgefaßten Plan ständig wechselt. Dieser Teil der Quintina Musik wird also wahrscheinlich als recht altmodisch zu bezeichnen sein, denn die jüngeren Komponisten scheinen sich von dieser Art des präskriptiven Den- kens emanzipiert zu haben und haben sich von der seriellen Methode abgewendet. Es ist die Frage, ob das nicht ein wenig voreilig war und ob die Resultate der Verfahrensweisen, die an die Stelle getreten sind, diese Wendung rechtfertigen. Unter diesen neueren Vorg Methoden ist jedenfalls diejenige, die dem Zufall eine weiter bedeutende Funktion im Zustande- kommen der musikalischen Ereignisse einräumt, die auffallendste und in ihren Konsequenzen radikalste.

    In einer von kurzem erschienenen Studie dieser Probleme von György Ligeti heißt es: "Die Überantwortung des (Kompositions) Ergebnisses an den Interpreten, schließlich die weitere Auf- teilung des Arbeitsprozesses entweder auf eine Anzahl von ... simultan, jedoch von einander nicht unbedingt unabhängig agierenden Interpreten - all das schuf eine Situation, in der Musik und damit musikalische Form im hohem Maße absichtslos und in ihrer Struktur indifferent wurden ...

    Zu diesem Aspekt ist zu bemerken", so fährt Ligeti fort, "daß der Gegensatz 'deter- miniert - undeterminiert' nie so ausschlag- gebend war wie die unintendierte Gemeinsam- keit der scheinbar antagonistischen Methoden.

    10

    Die Gemeinsamkeit bestand ... von A darin, dass beide Me- thoden mit Direktiven arbeiteten, die serielle Methode mit Direktiven der Vorformung determinierter An- ordnungen und Operationen, die Zufalls-Methode mit Direktiven für bestimmte Manipulationen mit Vor-Musikalischem und Außer-Musikalischem - Cages Würfel, Münzen oder Himmelsatlanten sind nicht weniger Vorformungsunterlagen als die exakten Pläne serieller Komponisten."

    Ligeti hat zweifellos recht insofern als beide Methoden Direktiven für die Gestaltung des musikalischen Rohstoffes aufstellen. Es scheint uns jedoch zu weit zu gehen, wenn er die beiden Methoden einander gleichsetzt und daher auch die Resultate ihrer Anwendung im Endprodukt für ununterscheidbar erklärt. Die Direktiven, die der serielle Komponist für seine Arbeit auf- formuliert, sind zunächst einmal das Ergebnis seiner freien Entscheidung. Er wählt die Zwölf- tonreihe, die er benützen will, er beschließt etwa, in welcher Weise er die in der Tonreihe erkenn- baren Größenverhältnisse zur Bestimmung von Dauerproportionen verwenden will, er entscheidet, ob er die von den zugrunde- gelegten Größenordnungen abgeleiteten Ansätze auf alle Parameter gleichmäßig applizieren, oder in welcher Weise er die Anwendung variieren will, u.s.w. Dem Würfelspieler stehen keine solchen Entscheidungen zur Verfügung. Vor

    11

    allem aber hat der serielle Komponist die Mög- lichkeit, von einem das ganze Werk umfassenden Formkonzept auszugehen und die Anwendung der auf alle Details bezogenen Direktiven diesem Konzept einzubauen. Das Reizvolle an der seriellen Methode ist, daß trotz solcher übergeordneter Pla- nung die genaue Determiniertheit des Details eine Fülle überraschender Situationen herbeiführt, aus denen sich für den Hörer Formzusammen- hänge kristallisieren, die im Originalkonzept nicht beabsichtigt waren. Ligeti nennt das die "malgré-lui"-Zusammenhänge und "malgré-lui" Formen und betrachtet diese mit einem Skepti- zismus, den zu teilen wir nicht für nötig halten. Ganz so malgré-lui sind diese Zusammenhänge ja doch nun auch nicht. Denn sie sind, wie immer weit hergeholt, doch das die Folge davon, daß auf Grunde der seri- ellen Durchorganisation des Werkes alles, was sich darin begibt, auf aus einer einheitlichen Grundgestalt entsprungen ist und daß alle noch so weit ver- zweigten Operationen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können.

    Die Resultate einer auf mehrere, nach sehr allgemein gehaltenen, vagen verbalen oder graphischen Direktiven improvisierender Inter- preten aufgeteilten Zufallsmusik können mit denen einer noch so strikt determinierten seriellen Manipulation gewiß nicht gleichgesetzt werden. Ich habe mehr als einmal beobachtet, daß der Urheber solcher Zufallsmusik von den Ergebnissen

    12

    der von ihm in Gang gesetzten Improvisation sehr enttäuscht war, weil die Musiker sich nicht in der von ihm vorgesehenen erhofften Weise auf ihren Instru­- menten ergingen. Es ist klar, daß halbwegs interessante Resultate nur zustande kommen werden wenn die Interpreten sich in den Stil und die musi- kalische Vorstellungsweise des Urhebers so eingelebt haben, daß sie die Musik schon fast selbst kompo- nieren könnten. Das war etwa der Fall mit dem kleiner Implorationsensemble, das Lukas Foss einige Jahre leitete. Unvorbereitete und Aufgaben dieser Art fremd gegenüberstehende Musiker werden gewöhnlich weit hinter dem Erwarteten zurückbleiben, so daß es zweifellos besser wäre, wenn der Komponist gleich niederschreiben würde iebe, was er zu hören wünscht.

    Die frühe elektronische Musik, jedenfalls die im Kölner Studio produzierte - und sie war auf während einiger Jahre hinaus die einzige wirklich beachtenswerte - diese elektonische Musik also war vorwiegend seriell organisiert. Herbert Eimert sagt darüber in dem Vor- wort zu seinem Epitaph: "Einzig die Struktur- idee des Seriellen hat die elektronische Musik vor einem Absinken in die sich rasch ver- brauchenden Klangeffekte bewahrt. Mag der Gesichtspunkt der 'totalen' Organisation von musikalischen Elementen inzwischen auch einer vergangenen Phase angehören, so war er entscheidend wichtig für die Entwicklung der elektronischen Musik."

    13

    Das ist zweifellos richtig, aber ich fürchte, daß Eimert hier ein wenig zu optimistisch ist. Leider hat von der Disziplin des Seriellen sich abwendende die Entwicklung des Komponie- rens im allgemeinen die Tendenz, das Komponieren im allgemeinen von der Disziplin des Seriellen zu befreien, bei vielen jüngeren der elektronischen Musik- erzeugung Beflissenen das Gegenteil der von Eimert erhofften Entwicklung bewirkt. Von keinen Fesseln kompositorischen Gewissens belastet, frönen Sie nach wie vor der Selb Erzeugung Herstellung aben- teuerlicher Klänge als dem sensationserzeu- genden Selbstzweck des elektronischen Mediums. Viele dieser heute in zahlreichen Studios herge- ver- stellten fertigten Tonbänder bieten wenig mehr als eine Schau- stellung (oder sollte man es eher Hörstellung nennen?) mehr oder weniger interessanten Klang- materials, das oft genug nach vernüftiger rationaler und das Interesse des Hörers fesselnder Gestaltung verlangt, jedoch solche Behandlung niemals genießt. Die Klangstücke sind meist monoton da sie nur einige wenige Klangphänomene in fortgesetzter Wiederholung vorführen, und wirken daher viel zu lang, obwohl sie objektiv vielleicht nur wenig Zeit in Anspruch nehmen.

    Es ist in In meinem ersten elektronischen Werk, dem Pfingstoratorium Spiritus Intelligentiae,

    14

    Sanctus, dessen ersten Teil ich 1956 im Studio des Westdeutschen Rundfunks reali- sieren konnte, habe ich serielle Methoden im Großen und Ganzen befolgt und in einem Abschnitt von etwa drei Minuten mit besonderer Strenge in einer Weise angewendet, die dem damaligen Stande der elektronischen Möglichkeiten und meiner Kenntnis davon durchaus entsprechend schien. Eine mehrstimmige kanonische Struktur ist so entstanden, daß einzelne Teile der beiden zugrundeliegenden Klanglinien nach vorher be- stimmten Proportionen schneller und langsamer (damit auch höher und tiefer) als die Originallinie gegen diese imitiert wurden. Die Zeitpunkte der verschiedenen Eintritte, Stimm- kreuzungen u. s. w. wurden auf die Gesamtdauer des Kanons projiziert und die so entstandene Dauernfolge maßstäblich auf die Dauern der einzelnen Klanglinien reduziert, um die den individuellen Klängen zuzumessenden weisenden Zeitmaße zu ermitteln. Die seriellen Direktiven waren also aus dem Gesamtkonzept der frei geplanten kanonischen Form und aus der besonderen Natur der Möglich- keiten des elektronischen Mediums gewonnen.

    Damals schien mir, daß dieses Medium, abge- sehen von der offensichtlichen Möglichkeit, völlig neue Klangcharaktere zu produzieren, sich dem seriellen Komponistin vor allem deshalb empfahl, weil rhythmische Komplexität - also Dauernver- hältnisse, die auf mikroskopischen Differenzen von Zeitspannen beruhen - mit einer anderswie

    15

    unerreichbaren Präzision realisiert werden kann. Es scheint mir, daß dieses Element heute keine solche Rolle mehr spielt und daß schon aus diesem Grunde die neuere elektronische Musik überhaupt nicht mehr oder nicht in der gleichen Weise wie die frühere seriell gebunden ist. Rhythmische Komplexität kann gewiß elektronisch ohne praktische Begrenzung dargestellt werden. Sie kann aber nur bis zu einer gewissen Grenze vom Ohr als solche wahrgenommen werden. Jenseits dieser Grenze verschwimmen die subtilen Dauerdifferenzen zu diffus flimmernden Klangbildern, zu deren Herstellung die schwierigen seriellen Berechnungen nicht nötig sind.

    Eine neue, vor allem in Amerika stark aus- gebildete Entwicklung der elektronischen Musikpro- duktion würde an sich die Fortsetzung strenger se- rieller Arbeit nahelegen. Es handelt sich um die Kom- position mit Hilfe des Computers, der elektronischen Rechenmaschine. Man darf sich das nicht etwa so vorstellen, daß jemand der Maschine aufträgt, ein Quartett zu komponieren. Das Verfahren besteht darin, daß der Komponist alle Parameter wie Tonhöhe als in der dem Computer geläufigen Zahlen- und Symbolsprache auf Bell Karten einträgt. Das wird praktisch von einer Art Schreibmaschine besorgt, die die Menschensprache in die Maschinensprache übersetzt. Die Karten laufen durch den Computer und es entsteht ein magnetisches Band, das alle der Maschine zugeführten Instruktionen als magnetische Impulse enthält. Dieses Band läuft dann durch einen Converter oder Umformer, der diese

    wie Tonhöhe, Dauer, Lautstärke, Klangfarbe, Anschlag, Vor- halt, u. s. w. 16

    Impulse so umwandelt, daß sie auf einem Tonband als klangerzeugende magnetische Konstellationen er- scheinen. Was Das Systen wurde zuerst von der Bell Telephone Company in größerem Stil entwickelt. Eine der von Bell erstellten Anlagen ist jetzt an der Universität Princeton in Verwendung. Neuerdings gibt es auch ein solches Laboratorium an der Univer- sität von Californien in Los Angeles, und Installationen dieser Art werden da und dort entwickelt. Das ist an sich nicht schwierig, weil praktisch jede elektronische Rechen- maschine dazu benützt werden kann, und deren gibt es ja heute mehr als genug. Was immer die von den Er- findern hochgepriesenen Vorteile des Verfahrens sein mögen, so sind seine Schwierigkeiten jedenfalls bedeutend. Zunächst muß für die Musikproduktion ein Programm hergestellt werden, d. h. ein System von Formeln, die den auf den Karten verzeichneten Zahlen den von der Maschine zu übertragenden Sinn verleiten, z. B. welche Kombination bedeutet vibrato, und wieviel vibrato, welche crescendo, welche Nachhall u. s. w. Die Das Verfassen eines solchen Programms ist eine unvorstellbar ungeheim mühsame, fast endlose Arbeit. Ferner, wenn es auch nicht schwer ist, einen Computer zu finden - wobei freilich darauf zu achten ist, daß nicht alle Computer demselben Stamm angehören und daher verschiedene Sprachen sprechen, so daß ein und dasselbe Programm nicht von allen verstanden wird - so braucht man jenen Converter der eine sehr kostspielige Spezialmaschine ist. Die ganze Produktion ist eher teuer, da die Computer meist für Industrie oder andere kommerzielle Zwecke betrieben werden, und die von so daß ihre Zeit sehr kostbar ist.

    16a 16a

    Daneben Daher gibt es auch oft organisatorische Probleme, da die Computer den Musikabteilungen nur zeit- und gastweise zur Verfügung stehen. Am Massachusetts Institute of Technology, einer der ersten technischen Hochschulen Amerikas, befaßt sich ein Mann in der Musikabteilung mit elektronischer Musik aus Computersystemen. Er hat jahrelang an dem Programm gearbeitet, das nun auf einem Kilometerlangen magnetischen Band aufgespeichert ist. Die Computer- abteilung, die für die Regierung, Industrie und andere zahlende Kunden arbeitet, läßt den Mann jeden Tag für zehn Minuten an ihre kostbare Anlage heran, was einem Geschenk der Technik an die Musik im Werte von 600 Dollar per Tag gleichkommt, denn eine Stunde Computerbetrieb kostet etwa 3500 Dollar. Da wird nun zunächst das von dem Mann ausge- arbeitete Programmband eingelegt, damit die Ma- schine weiß, wie die zu erwartenden Instruktionen zu verstehen sind, und dann werden die Kartenpakete, die der Mann seit gestern vorbereitet hat, durch die Maschine geschleust. Die Installation ist besonders vorteilhaft, da der nach den Entwürfen des Mannes gebaute Converter direkt angeschlossen ist, so daß der Mann nach zehn Minuten sein Resultat auf Ton- band ausgefolgt erhält. Er kann es nun in sein Bureau hinauftragen und abhören, was sich er- geben hat. Meist ist der Converter ganz wo an- ders und nur zu anderen Zeiten zugänglich, was alles noch schwieriger mühevoller macht.

    17

    Für den Komponisten besteht eine Hauptschwierigkeit darin, daß er die Klänge, die er schließlich als Bestand- teile seines Werkes auf Tonband aufnehmen will, nicht hören kann, bevor sie auf dem Band sind. Da das Ver- fahren keine Frequenzgeneratoren verwendet, weil die klangerzeugenden magnetischen Konstellationen durch stumme Übertragung elektronischer Impulse entstehen, kann man nur das fertige Produkt hören, und wenn man etwas korrigieren will, muß man neue Karten anfertigen und den ganzen Prozess wiederholen.

    Das elektronische Komponieren mit der älteren Apparatur legt eine Arbeitsweise nahe, in welcher impro- visatorische oder inspirationsmäßige Elemente eine weit größere Rolle spielen als man gewöhnlich annimmt. Gerade Da man die unter der Hand entstehenden Klänge genau beobachten, kontrollieren, fortgesetzt beeinflussen und ändern kann, läßt sich eine ungeahnte Mannigfaltigkeit und Elastizität erzielen. Die elektronischen Blöcke, die ich in der Quintina abwechselnd mit instrumentalen Pas- sagen verwende, sind ursprünglich Teile eines elektro- nischen Gesamt Ganzen, das ich im Studio der Brandeis Universität herstellte. Das ist ein in gewissem Sinn etwas primitives, altmodisches Studio, aber ungewöhn- lich intelligent und praktisch für die Bedürfnisse des Komponisten angelegt. Zwölf Oszillatoren, die sich auf die drei gebräuchlichen Wellentypen schalten lassen, sind mit einer Tastatur verbunden, so daß man ein bis zwölf Klänge gleichzeitig aufnehmen kann. Rausch- und Impulsgeneratoren, Ringmodulator und Hallraum sowie die üblichen Filtersysteme vervollständigen die Anlage. Ein besonderer Apparat, den ich sonst

    18

    noch nirgends gesehen habe, besteht aus vier Spulen, über die man Bandschleifen laufen lassen kann, wobei die Geschwindigkeit jeder Spule während des Ablaufs verändert werden kann. Ich habe diese Vorrichtung an ein paar Stellen des Stücks verwendet. Dasieses Stück erhielt schließlich den willkürlich erfundenen Titel Quintona, um es von der Quintina zu unterscheiden und doch, mit der es die enge Verwandtschaft steht zu jener zu betonen.

    Das Gesamtkonzept der Form stand von vornherein fest; dann wurden bestimmte Angelpunkte dieser Form klanglich realisiert. Nach und nach wurden dann die Einzelheiten eingefügt, den Charakteren entsprechend, die der Gesamtplan vorgesehen hatte. Die Form des Stückes nimmt sich nunmehr etwa folgendermaßen aus: Eine Art Einleitung führt ein einfaches, aufsteigendes Vierton- oder Vierklang Motiv vor, das die Hauptpunkte der Form miteinander in Beziehung setzt. Es folgt eine quasi-kontrapunktischer Abschnitt dessen Stimmen Perspektive in einer zweikanaligen Stereowiedergabe deutlicher hervortritt. Ein paar Akkorde über weißem Rauschen bringen den ersten dynamischen Höhepunkt. Ein von zarten Klängen und leisen Klopflauten charak- terisierter Passage Abschnitt folgt und verklingt. Ein zweites kon- trapunktisches Sätzchen, über aus einer Variante des Vier- tonmotivs entwickelt führt zum zu einem dem heftig und schnell sich steigernden zentralen Abschnitt mit einem schrei-artigen Höhepunkt. Ein zweiter Komplex von zarten Klängen und Klopflauten steht symmetrisch zum ersten. Eine Wörtliche Wiederholung des ersten Höhepunktes bringt eine Art Coda. Diese ist durch einen Spezial- effekt eingeführt, den ich dadurch erzielte, daß ich meine zwölf, auf verschiedene Frequenzen eingestellten

    18a Hier habe in welchem ich die beschriebene Schleifenvorrichtung zum ersten Mal benützte, um kurze Phrasen durch sich beschleunigende Wiederholung imitatorisch fortzuentwickeln. Die Klopflaute sind aus verschiedenartig gefiltertem weißen Rauschen durch staccato Betätigung der Kontrolltaste gewonnen. Das gesamte Klang- material des Stücks ist rein elektronisch er- zeugt. Keine außerelektronischen Klangphänomene wurden durch Mikrophon aufgenommen - also keine musique concrète. Hier wurde wieder der Schleifenapparat in Anspruch genommen, um die jäh auf und niederfahrende Figur so zu beschleunigen, daß ihre Töne praktisch in einer Vertikalen zusammenfallen, und so hochzutreiben, daß das Gebilde über der Hörgrenze verschwindet. v. 18

    Oszillatoren individuell eingeschaltet ließ, während die Stromzufuhr für das ganze System abgestellt war. Wenn dann der Hauptschalter aufgedreht wurde, begannen die einzelnen Oszillatoren sich nach und nach mit eigentümlichen Schleif- und Heultönen ein- zuschwingen. Für die letzte Steigerung wurde wieder der Schleifenapparat plus Magnetophonecho benützt. Die Herstellung des etwa 9 Minuten dauernden Tonbandes erforderte ungefähr einhundert Arbeits- stunden. Sie hören jetzt das elektr. Werk Quintona von E K.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    [Vortrag für eine Radiosendung des WDR Köln über Sprache und Musik in Zusammenhang mit elektronischer Musik]

    Untertitel

    WDR Nachtprogramm

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    20

    Signatur

    LM-116

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Musik und Sprache, Aleatorik, Elektronische Musik, Serielle Musik, Graphische Notation
    Back to Top