[Vortrag für eine Radiosendung des SWF über Liedkompositionen von Franz Schubert]

Abstract

In einer Radiosendung für den SWF am 3./4. März 1961 setzt sich Krenek mit Schuberts oft gescheiterten und von der Nachwelt wenig beachteten Bemühungen im Musiktheater auseinander. Anhand zahlreicher, von Krenek selbst am Klavier vorgetragenen Beispielen aus Schuberts Liedschaffen, erklärt er dessen kompositorische Meisterschaft. Die von Schubert gelegentlich zur Vertonung ausgewählten, nach Kreneks Einschätzung literarisch eher wertlosen Texte, bieten einen Basis für die Analyse der dramatischen Besonderheiten Schuberts, die schließlich zu einem Erklärungsversuch für das Ausbleiben von Erfolgen für Schubert im Bereich des Musiktheaters führt.

    A Schubert f. SWF Baden-Baden

    Es scheint, daß die Schubert-Biographen des 19. Jahrhun- derts einige Schwierigkeiten hatten, ein überzeugendes Charakterbild des Komponisten zu entwerfen. Auf der einen Seite schien war es gewiß wünschenswert, einen so liebens- würdig-gemütlichen Komponisten, dessen Porträtbüste ebenso zum bürgerlichen Hausrat gehörte wie seine bekannteren Musikstücke, als einen soliden, ehrsamen, fleißigen, gutgearteten und wohlgesitteten Mitbürger darzustellen, den jeder gern in seinem Haus empfangen hätte. Daß er den Mädchen gegenüber so scheu war, machte ihn nur noch sympathischer, da man ihn nun auch noch ein wenig bedauern durfte, weil er, obgleich ein so großes Genie, sich doch aus lauter Anständigkeit keine reguläre Häuslichkeit zu verschaffen wußte. Demgegenüber stand aber die auffallende und verdrießliche Tatsache, daß ein so vorzüglicher Biedermann es im bürgerlichen Leben zu nichts brachte gebracht hatte und als ein Habenichts dahinstarb. Auch ließ es sich schwer verheimlichen, daß er sich viel in Wirtshäusern herumgetrieben haben muß, wenn man auf so drollige Details seiner Biographie, wie daß er musikalische Genieblitze auf die Rückseite von Speise- karten zu notieren pflegte, nicht verzichten wollte. Sein Mangel an weltlichem Erfolg konnte auch nicht damit begründet werden, daß er als verkanntes Genie gegen den Widerstand einer verständnislosen und feindseligen Mitwelt nicht aufkommen konnte. Schuberts Musik wurde von seinen Zeitgenossen nicht nie als radikal, aggressiv oder skandalös empfunden, ja nicht einmal als besonders sensationell, obwohl sie selbst für uns noch evident genug ist. Man hört wohl, daß jemand über die Dissonanzen im "Erlkönig" den Kopf geschüttelt habe, oder daß hie

    ihre gelegentliche Kühnheit B

    und da etwas in Schuberts Musik als überladen oder kon- fus kritisiert wurde. In der öffentlichen Meinung hatte aber wahrscheinlich der alternde Beethoven den Ruf der Kühnheit, Abwegigkeit und Unzugänglichkeit so monopolisiert, daß davon für andere Komponisten nicht viel übrig blieb. Schuberts Kühnheiten sind nicht sensationell und wurden daher wahrscheinlich fast unbemerkt hingenommen. Freilich wurde ja auch zu seinen Lebzeiten nur ein Bruchteil seines Werkes in weiteren Kreisen bekannt.

    Es liegt als Um Schuberts verdrießlichen Mangel an bürger- lichem Erfolg zu erklären, liegt es also nahe, anzunehmen, daß er vermutlich kein sehr strebsamer Mensch war, im Sinne jener Strebsamkeit, die sich in der Tüchtigkeit äußert, meßbare Re- sultate zu erreichen. Bei genauerer Betrachtung gewinnt man nämlich den Eindruck, daß die mehreren Bewerbungen um verschiedene Amtsstellen, die Schubert von Zeit zu Zeit unternahm, nicht immer nur wegen der Miß- gunst und Unwissenheit der maßgebenden Personen in nichts zerrannen, sondern wohl auch deshalb, weil der Bewerber selbst keinen gewaltigen Eifer an den Tag legte und insgeheim gar nicht so enttäunscht zu sein schien, wenn ein anderer Versuch, ihn in eine bureaukratische Routine zu zwingen, daneben ging. Wenn ihm das dürftige Leben auch nicht behagen moch- te, so gefiel ihm die Freiheit von lästigen Bindungen augenscheinlich umso mehr.

    Merkwürdigerweise war er aber doch sehr strebsam auf einem Gebiet, wo man das kaum vermuten würde. Es ist auch unseres Wissens von den meisten Biographen Schuberts nicht besonders hervorgehoben worden, ob- wohl es aus der musterhaften Doku- mentensammlung von Otto Erich Deutsch klar hervorgeht. Das Gebiet, auf dem sich Schubert wirklich sehr bemühte, war zugleich das, wo er am wenigsten Erfolg hatte, nämlich die Oper.

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    Auch dieser Mißerfolg ist vielfach auf äußere Umstände zurückgeführt worden, wie etwa die im Opernbetrieb aller Zeiten und Gegenden herrschende herrschende Intrigenwirt- schaft und die besonders damals in Wien überwiegende Vor- liebe für die italienische Oper, vor allem Rossini. Immer- hin haben die meisten Beobachter zugegeben, daß Schubert als Opernkomponist keine glückliche Hand hatte und als Theatermensch mit einem Rossini gewiß nicht kon- kurrieren konnte. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Auf jeden Fall ist es eigenartig, daß Schubert selbst nicht müde wurde, sich auf diesem so widersetzlichen und undankbaren Gebiet immer wieder zu versuchen, und diesen wenig ergiebigen Experimenten mehr Auf- merksamkeit zuwendete als seinen unbestrittenen Mei- sterwerken. Vielleicht standen lagen ihm jene so am Herzen, gerade weil sie Sorgenkinder waren.

    Ein Vorwurf, der dem Komponisten Schubert ge- macht wurde und der in gewissem Weise Sinne mit dem Mißtrauen gegen die seine untüchtige, fast liederliche Lebensweise zusammenhängt, besteht darin, daß er zwar himmlische Einfälle gehabt, aber eigentlich nicht gewußt habe, wie man ordentlich komponiert. Diese Auffassung hat sich wohl vor allem in gewissen akademischen Kreisen herausgebildet, wo die Großen der Musikgeschichte auf Grund sorgfältiger Definitionen und unhaltbarer Voraussetzungen in die eisernen Gitter festumgrenzter Kategorien eingesperrt werden. Von der abschätzigen Bemerkung eines Wiener Professors, daß es mit Schubert nicht weit her sein könne, weil er es doch nicht einmal zu einer fix besoldeten Stellung gebracht habe, ist nur ein Schritt zu der in Amerika verbreiteten Auffassung, daß Schubert nur Lieder schreiben konnte, weil er von den zur Herstellung größerer Formen notwendigen Künsten der Konstruktion und Durchführung nichts verstanden habe. Als Artur Schnabel an einem ameri- kanischen College, an dem ich damals tätig war, für einen

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    Klavierabend engagiert war und für das Programm eine Sonate von Schubert ankündigte, drohte der Studenten- ausschuß, das Engagement rückgängig zu machen, da sie doch gelernt hatten, daß Schubert keine Sonaten schreiben konnte. Erst als ich die jungen Damen darauf aufmerksam machte, daß Schnabel, wenn er von ihrem Vorurteil wüßte, das seinen Besuch aufs schnellste selbst absagen würde, ließen sie sich eines Besseren belehren.

    Ein Faktor, der wohl zu den schlechten Noten beitrug, die Schubert in den neueren Theorieklassen bekommt, ist vermutlich seine relative Gleichgültigkeit gegen kunstvolle Übergänge. Die musikalische Formenwelt scheint für ihn aus lyrischen Monaden zu bestehen, die nur locker auf- einander bezogen sind. Ein Thema in einer Sonate ist ihm nicht eine mit Schicksal geladene Energie- zelle, deren Spannungsausgleichprozesse einen halbstün digen Musikverlauf bis ins letzte Detail beherrschen werden, wie man das bei Beethoven beobachtet, sondern für Schubert war ein solches Thema eher eine in sich geschlossene lyrische Einheit, von der man, wenn sie fertig war, ohne viel Umstände zu einer anderen fortschritt. Sein ganzes liebevolles Interesse, seine ganze Phantasie und großartige technische Meister- schaft ist auf das konzentriert, was im Innnern einer solchen in sich geschlossenen lyrischen Einheit vorgeht.

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    Wenn wir uns jetzt den Beispielen zuwenden, mit denen ich einige der besonders faszinierenden Züge von Schuberts Kompositionskunst illustrieren will, so mag wird es, aufallen im Licht meiner Bemerkungen, kaum Wunder nehmen, daß ich dazu ausschließlich Lieder von Schubert benützen werde, obgleich ich keinerlei Gesangskräfte zur Hand habe und den Hörern gewiß nicht zumuten will, etwa eigene Versuche in dieser Richtung zu erdulden. Ich werde also in den folgenden Beispielen die Töne der Sing- stimme jeweils in den Klavierpart so gut wie möglich einbeziehen. Ich will das deshalb tun, weil sich gerade an dem gewöhnlich mit emotionellen Nebenbedeutungen überbesetzten lyrischen Schaffen Schuberts seine komposito- rische Meisterschaft besonders deutlich ablesen läßt, sowie man von dem Anliegen von Aussage und Ausdruck ab- sieht.

    Lassen Sie uns mit etwas sehr Einfachen beginnen. Hier ist das Lied "An die Nachtigall", komponiert 1816 nach einem Text von Matthias Claudius. Schubert war damals 19 Jahre alt und das Lied macht gewiß den Eindruck jugendlicher Unbefangen- heit. ex. 1 IV 96 Tonsprachlich gibt es keine Probleme auf. Daß die vorletzte Phrase nach der gleichnamigen Mollton- art wechselt, ist gemeingut des Zeitstils. Was erstaunlich ist an dem kleinen Lied, ist seine Form. Abgesehen von Repetitionen innerhalb der einzelnen Phrasen, wiederholt sich hier nichts. Ein Gedanke folgt dem anderen, aber das Folgende bezieht sich nicht zurück auf das Vorhergegangene. Die berühmte drei- teilige Liedform - ABA, mit kontrastierendem Mittelteil und abschließender Wiederholung des Anfangs, gewöhnlich als Musterbeispiel der Liedkomposition dargestellt - ist völlig beiseite gelassen. So wie es heißt, daß in der Sprache "ein Wort das andere gibt", so produziert hier eine mu- sikalische Gestalt die andere, überzeugend im Vorwärts- gehen und ohne rechtfertigenden Rückblick. Jedoch schon hier läßt sich eine andere Eigenart des Schubert-Stils be- obachten. Wie schon gesagt, gibt es lokale Wiederholungen

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    innerhalb der Phrasen. Jedes Sie sind aber selten wörtlich und niemals mechanisch. Lassen Sie mich die letzten vier Takte, das Nachspiel des Liedes, nochmals zu Gehör bringen. Es besteht aus einer zweitaktigen Phrase, die wiederholt wird. In der Wiederholung aber ist in der rechten jeder Hand je ein Ton verändert. Langsam nochmal diese vier Takte. ex 2

    Das nächste Beispiel ist das Lied "Wehmut". Auch hier entsteht die Form durch Aneinanderreihung von stets neuen Gedanken. Was zunächst als kontrastierender Mittelteil an- muted - die dramatisch gesteigerte Tremolo-Stelle, ist von keiner Reprise gefolgt, sondern von dieser einer sich unmäßig verbreiternden neuen Gestalt. ex. 3 Wehmut, III. 15

    In dem sogenannten Mittelteil der dramatischen Tremolo-Passage lernen wir ein Kunst- mittel kennen, das für Schubert von höchsten Bedeu- tung ist, nämlich die enharmonische Umdeutung. Das ist, um es laienhaft auszudrücken, ein Trick, der es er- möglicht, durch alle Tonarten im Kreis zu wandern und dem zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Daß es gelingt, verdanken wir der sogenannten gleichschwebenden Tem- peratur, d. h. jener Anordnung der Töne, wie wir sie etwa auf unserem Klavier haben, wo es für fis und ges, oder cis und des nur je eine Taste gibt. In dem Lied "Wehmut" geht Schubert von der Tonika d-moll ex zur 6. Stufe — B dur ex — er deutet diese als Domi- mante von es moll. Den Es moll Akkord deutet er wieder als 3. Stufe von Ces dur ex, aber den Ces dur Akkord, der eigentlich 7 b´s haben müßte, notiert er als H dur. Das ist nun nichts weiter als die Dominante von e moll ex und e moll ist die 2. Stufe von d moll, das nun ganz

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    leicht über seinen Dominantakkord erreicht wird ex Es ist, als ob man zu einer Weltumsegelung auf- gebrochen wäre, aber irgendwo von den Antipoden blitz- schnell durch den Mittelpunkt der Erde unversehens zum Ausgangspunkt zurückgeschwenkt wäre. Diese Pro- zedur war theoretisch seit der Ausbildung der gleich- schwebenden Temperatur, also über hundert Jahre vor Schu- bert, zur Verfügung, aber erst durch ihn wird sie zu jener Entfaltung bis dahin ungeahnter harmonischer Farben- pracht benützt, die zum hemmungslosen Durchgleiten der ganzen Regenbogenskala im "Tristan"-Stil führt. In dem Lied "Auflösung" wird der ganze mittlere Teil um einen halben Ton aufwärts verschoben, von G dur nach As dur. ex. V, 196

    Den Vorwand zu dieser Verrückung des tonartlichen Plateaus bildet die sogenannte neapolitanische Sext, jene Abänderung der 2. Stufe der Mollmodalität - statt wird gesetzt - die auf die tief eingewurzelten Bedenken der mittelalterlichen Theoretiker gegen den Tritonus zurückgeht. Also: As dur ist die neapolitanische Sext in G dur, und das genügt, um den ganzen Mittelteil unseres Liedes dorthin zu verschieben. Die Rückführung ist nicht weniger rücksichtslos. Zunächst geht es enhar- monisch von As dur nach H dur. Dieses wird nun offenbar als Dominante von e moll, und dieses als 6. Stufe von G dur aufgefaßt. Jedoch, das e moll erscheint gar nicht, und man kommt ohne Umweg zurück zur Anfangstonart. ex ex

    Eine Ausweichung, die sich nicht einmal durch Elision theoretisch begründbarer Zwischenstufen er- klären läßt, ereignet sich im Lied "Fülle der Liebe" ex. III 193

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    Man hat es hier gewiß mit einem frühen Phänomen aus jenem Randgebiet zu tun, das die späte Romantik so ausgiebig kultiviert hat, wo nämlich expressive Schockwirkungen hoher Intensität dadurch zustande kommen, daß ein Material, dessen traditionelle Zusammenhänge noch als völlig präsent im Bewußt- sein des Hörens vorausgesetzt werden können, aus diesen Zusammenhängen herausgebrochen und in ungewohnte, unerklärbare Kontexte gebracht wird. Es liegt auf der Hand, daß dadurch das Material selbst immer mehr aus- gehöhlt wird. Schließlich werden die Dreiklänge und ver- minderten Septimenakkorde, mit denen Schubert auskommt, nicht mehr genügen, um die Schockwirkungen zu erzielen, die er als so wünschenswert erscheinen machte. Von hier führt ein gerader und nicht sehr weiter Weg zur Atonalität. In dem Lied "Waldesnacht" kommt es zu harmonischen Rückungen, die sich mit Hilfe der tra- ditionellen Theorie nur mühevoll erklären lassen. ex. III 159

    Der D dur Klang, der zwischen Tonika und Dominante von Es dur steht, läßt sich selbst in die der als bequemes Sammelbecken aller Arten von Unregelmäßigkeiten geschaf- fenen Kategorie der Zwischendominanten kaum unterbringen. Er ist und bleibt ein tonaler Fremdkörper. In dem Lied "Gruppe aus dem Tartarus" endlich bricht die to- nale Kontrolle praktisch ganz zusammen. Wohl ist das harmonische Material durchaus das der traditi- onellen Tonsprache, aber das unaufhörliche chromatische Ge- schiebe erlaubt nur zwei kurze Ausbreitungen Haltepunkte auf den sonst nicht relevanten Tonarten d-moll und fis moll, und selbst die C Tonalität, mit der das Lied endet, wird nicht so sehr als Ziel empfunden denn als ein neuer Herd von Unruhe. ex. II 61

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    Vielleicht weniger spektakulär als diese harmonischen Explosionen, aber umso raffinierter sind die metrischen Manipulationen Schuberts. Wie bekannt, basiert die tonale Musik jenes Zeitalters auf symmetrisch aufge- bauten Periodenbildungen, in denen sich Phrasen von durch zwei teilbaren Taktzahlen die Waage halten. Als Beispiel für diese millionenfach vertretene Norm nochmals die Ein- leitung der "Nachtigall", die wir eingangs kennen lernten. ex. IV - 96

    Als Gegenbeispiel für die subtilen Unregelmäßigkeiten, die Schubert in die Periodenbildung einführt, hören wir eine Stelle aus dem "Schatzgräber". Hier stehen zunächst zwei Takte: ex. IV 22 gegen zwei, einhalb ex Diese sind gefolgt von einer echten zweieinhalbtaktigen Phrase. ex Die Ausdehnung ist motiviert durch die mit Hilfe von Akzenten eigens hervorgehobene Wiederholung des d. ex. Der nächste Abschnitt bringt Beruhigung: zwei ausgewogene zweitaktige Phrasen: ex. Schon folgt aber wieder die drängende, akzentuierte Wiederholung und schafft eine Ausdehnung auf 2 ½ ex. Die nächste Wiederholung ist überraschender Weise auf die einen normalen Zweitakter verkürzt ex, dafür produziert aber die vierfache, heftig akzentuierte Wiederholung in der Schlußphrase eine Ausdehnung auf 3 ½ . ex Wunderbare metrische Arbeit enthält "Der Zwerg". Hier wird zunächst als Norm eine sechstaktige Phrase aufgestellt ex II 55

    Mit dem Einsatz der Singstimme wiederholt sie sich und befestigt so die Sechstaktigkeit. ex Die Wiederholung dieser Phrase reduziert sie jedoch auf 5, und die ex und die Abschlußphrase hat knappe 4 Takte ex.

    denen ein halber Takt als Zwischenspiel zugegeben ist: 6

    Die zweite Strophe hat wieder einen Fünftakter ex, und wenn es im Text heißt: "Hinauf zur lichtdurchwirkten blauen Ferne, die mit der Milch des Himmels bloß durch- zogen", so haben wir zwei herrlich schwebende ausgegli- chene Viertakter ex. Das Drama des Gedichtes wird von einer viertaktigen Phrase eingeleitet ex, doch ist sie sogleich von einer dramatisch verkürzten dreitaktigen gefolgt. ex Noch kürzer: nur zwei Takte ex und vier zum ruhigen Abschluß ex, und so geht es fast durch das ganze lange Lied. Die Flexibilität, mit welcher hier asymmetrische Elemente in fortgesetzt fließendes, lebendiges Gleichgewicht gebracht sind, kann nicht genug bewundert werden.

    Ein liebliches Beipiel für das schwebende Gleich- gewicht ist, "Das Rosenband". Hier gibt es zunächst zwei ganz schlichte zweitaktige Phrasen ex V 160, denen ein gedehnter Dreitakter folgt ex. Die Dehnung wird durch eine noch stärkere Dehnung gerechtfertigt — fünf Takte ex. Die zweimal zwei Takte der Abschlußphrase mit ihrer gleichmäßigen Verteilung der rhythmischen Werte stellen die Ruhe wieder her. ex Es lohnt sich, nochmals das in drei plus fünf Takte gegliederte Mittelstück unter die Lupe zu nehmen. Zunächst ergibt ist drei plus fünf gleich acht, so daß das Mittelstück mit den vorangehenden und folgenden Viertaktern das ganze Lied doch auf die Normalzahl 16 bringt. Reizvoll ist, daß die erste Phrase des Mittelstückes nämlich die kurze dreitaktige, mit den langen Noten endet, und daß die längere fünftaktige mit diesen anhebt. ex Dadurch wird von dem Fünftakter ein mit dem Zweitakter korrespondierendes zwei- taktiges Glied abgetrennt, während sich die Bewegung dann in den zu einem Höhepunkt drängenden übrig , drei Takten zusammen konzentriert.

    übrigbleibenden, 7

    Ein Höhepunkt des Raffinement ist erreicht in dem großartigen Lied "Delphine", einer Soloszene aus dem Schau- spiel "Lacrimas" von Wilhelm von Schütz. Hier wird als me- trische Grundgestalt eine Kombination von 2 plus 1 Takten aufgestellt, die dem hektischen Ton der Dichtung besonders entspricht. ex II 126. Die Figur wird sogleich wieder- holt, um sich als Norm zu etablieren ex. Sie ist dann gefolgt von einer Ausdehnung auf 3 plus 1 ex. Das ist wohl eine viertaktige Phrase, aber weit entfernt von der sonst als normal geltenden Viertaktigkeit. Hier ist wird der Viertakter deutlich als Unregelmäßigkeit empfunden. Ein leichter Einschnitt artikuliert die folgenden Sechs Takte in zwei symmetri Dreier. ex. Die abschließenden vier Takte erst haben den Charakter normaler Sym- metrie ex. Die nächste Strophe gewinnt ihre drastische Dramatik aus dem so klug aufgestellten Grundmuster 2+1. Zunächst wird dieses in Erinnerung gerufen ex, dann geht es aber sofort weiter mit drängendem Auf- takt, und es folgt 2 plus 1 plus 1 plus 1 plus 1 plus 1. ex Das atemlose Absinken in den fünf isolierten Einzeltakten wird später zu einem Grundmotiv des abwechselnd himmelhoch jauchzenden und morbid verzitternden Liedes. Die 2 plus 1 Gestalt wird noch- mals abgewandelt als 2 plus 2, indem das als Einser bekannte Partikel gedehnt wird. ex p. 129 Ein ritardando bekräftigt das. Zum Schluß des Liedes wird die Idee dieser Ausdehnung des erst so hektisch atemlosen Einsers zu zwei wilden Ausbrüchen gesteigert. Hier kommt zunächst wieder 2+1 ex p. 130 wird aber gefolgt von einem das Metrum sprengen- den 2 plus 4 ex. 130. Die Coda wird noch aus- fahrender: zunächst zweimal 2 + 1. ex. gefolgt von

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    fünf. ex. Die Wiederholung bringt wieder zweimal 2 plus 1 ex, aber nun den größten Ausbruch: 2 plus 5, der auch die Singstimme zum hohen C hinauf- treibt ex.

    Während die Betrachtung von Schuberts Liedern vom Standpunkt der Kompositionstechnik ein sehr klares Bild seiner Erfindungsgabe und Meisterschaft vor allem auf in den Sektoren der Harmonik und Metrik vermittelt, ergeben sich manche schwerer zu durchschauende Probleme, wenn man die Beziehung des Komponisten zu den von ihm gewählten Texten untersucht. Neben der unge- heuren Anzahl von der Liedern, die schon seit jeher das Er- staunen aller Beobachter erregt hat, fällt in der Auswahl der Texte eine Breite des Geschmacks auf, die an Wahllosigkeit grenzt. Die mehreren hundert Gedichte, die Schubert komponiert hat, bilden einen Querschnitt durch die deutsche Literatur der Zeit, der von der leuchtenden Oberschichte der Goethe, Shakespeare, Schiller, Klopstock in unwahr- scheinliche Tiefen reicht, die ohne Schuberts Vertonungen vermutlich im Dunkel der Vergessenheit schlummern würden. Da ist vor allem der erstaunliche Johann Nepomuk Mayrhofer, der, um in seinem Stil zu sprechen, den Pegasus als Steckenpferd reitet und dessen parnassische Ergießungen die Haupt wichstigste der kastalischen Quellen speisen, aus denen sich Schuberts durstige Muse ihre, schöpferischen Letzungen holt. Mayrhofer hat nicht nur fast die ganze Mythologie in lyrischen Momentaufnahmen festgehalten, wovon solche Titel wie Mamnon, Orest, Philoetet, Antigone und Oedip, Atys, Heliopolis Zeugnis ablegen, sondern hat sich auch oft in gemütvolle Genrebilder vertieft, die zu kostbaren Sprachblüten Anlaß geben. So gibt es z. B. ein Gedicht "Sehnsucht": II 22

    /3 zweifellos ein hochgelehrter und wohl belesener Herr, 9

    Daß dem eifervollen Studenten der Mythologie auch frivolere Töne zur Verfügung stehen, zeigt ein "der zürnenden Diana" gewidmetes Gedicht. II 75

    Vom Übermut des Profssors angesteckt, konzipiert Schubert eine Phrase, die mehr danach klingt, als ob er den Wiener Wäschermadeln auf die feschen Wadeln ge-schaut hätte als auf das ohne Schleier strahlende Himmelsweib. II 76

    Eine für Mayrhofer in ihren Trübsinn typische tiefsinnige Betrachtung ent ist hält der Gegenstand des Gedichtes "Wie Ulfru fischt", wo schon der abwegige Name des mythischen Fischers auf eine besonders obskure Sphäre hindeutet. IV 16

    Auch das kurze Gedicht" Der Abendstern" enthält ir- gendwie abgründige und auf eigenartige astronomische Überlegungen gegründete Philosophie: V 133 Daß Mayrhofer ein schwermütiger Mensch war, der seinem Leben selbst ein Ende setzte, ist gewiß zu bedauern. Es erklärt wohl den Es muß jedoch neben Mayrhofer eine Reihe von ähnlichen Sprachgenies gegeben haben, nur sind sie bei Schubert nicht so reichlich vertreten. Hier ist einer, der heißt Kenner, und seine Poetik ist gewiß etwas für Kenner. Schon der Titel eines Gedichtes "Der Liedler" erweckt Neugier. Es zeigt sich später, daß der ein Liedler offenbar ein professioneller Liedersänger ist. Seine Tragödie fängt so an: IV nur 33

    Er irrt umher, "den Tod sich zu erstreiten", aber das gelingt nicht, und er kehrt zurück, wo die edle Maid Milla, für die er zu schlecht war, einen ebenso edlen Ritter heiraten soll. Die Sache geht übel aus: IV 41 - 44

    Die ernste Frage ist, wie ein Komponist vom Range Schuberts sich dazu entschließen konnte, auf diesen von Bürger in- spirierten dilettantischen Schwulst etwa 600 Takte Musik zu verschwenden.

    Derselbe Kenner hat sich an einem "Fräulein versucht, das schaut vom hohen Türm" IV 152

    morbiden Ton vieler seiner Gedichte, erhöht jedoch leider nicht ihre sprachliche Würde. 10

    Eine Freifrau Caroline Louise von Klenke läßt die emotionelle Temperatur verwegen in die Höhe gehen: "Heimliches Lieben": IV 104

    Wiederum gibt es zu denken, daß Schubert sich 1827, also zu einer Zeit, da er nach der Ansicht vieler Biographen seinem nahe bevorstehenden Tod ins Auge sah, von diesem eher kitschigen Erotikon angeregt fühlte. Vielleicht hat ihn dessen einziger origineller Zug, die verkürzte letzte Zeile in jeder Strophe, interessiert. Jedenfalls ist die Musik zu diesem wollüstigen Erguss für Schubertsche Verhältnisse eigentümlich kühl und gelassen. Jenun, Schubert hat auch das folgende Gedicht in das Stammbuch eines Freundes komponiert: V 169

    Der Dichter heißt - Franz Schubert. Wir wollen uns hier weder über Schubert noch über die unglücklichen Dichterlinge lustig machen, die ja gar nicht ahnten, daß sie durch ihn einer lästernden Nachwelt zur Schau gestellt werden würden. Was uns interessiert, ist, wieso ein Mann von Schuberts Kaliber sich von solchen Reimereien zu unausgesetzt erneuerten schöpferischen Anstrengungen gereizt fühlen konnte. Es läßt sich kaum anders erklären als durch die Annahme, daß er bis zu völliger Widerstandslosigkeit an- regbar war. Ob Goethe, Schiller, Seidl, Collin, Schober, oder schließlich Mayrhofer - wer immer vom Fischen, vom Wasser, von den Fischen Kähnen und den Wellen dichtete, Schubert konnte nicht widerstehen, und hatte ein neues Exemplar aus dem unerschöpflichen Katalog seiner Wassersymbole herbeizuschaffen. Seine Musik leuchtet, wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte; und das Sprudelgehudel eines Winkelpoeten ist ihm ebenso willkommener Anlaß zu musikalischen Wasserpantomimen wie das ma- jestätische Gewoge eines Dichterfürsten.

    sein besonderes Talent für die Darstellung musikalische Sym- bolisierung Schulze oder Müller, 11

    So weit wir es überblicken können, ist noch nicht oft beobachtet worden, eine wie große Zahl von Schuberts Liedern in Wirklichkeit musikdramatische Vorstudien zur Oper darstellen. Das zeigt sich am deutlichsten in den umfang- reichen Gesängen zu den Texten aus "Ossian", obwohl auch manche andere Lieder, etwa die Fragmente aus Goethes "Faust", dialogische Behandlung und dramatische Gestiku- lation aufweisen. Die Ossian-Gesänge, die über sechzig enggedruckte Seiten füllen, sind viel zu lang, um im Detail besprochen zu werden. Es läßt sich jedoch sagen, daß die bei Schuberts vorherrschende formale Disposition dieser mehr oder weniger dramatischen Dialoge auf eine Ab- wechslung zwischen Recitativ und Arioso abzielt, wobei sich die beiden Ausdrucksformen quantitativ ungefähr die Waage halten. In dieser Hinsicht Darin ist Schuberts dramatischer Stil in eben dem Grad fortschrittlich als er sich rückwarts zu orientieren scheint an den Modellen des alten großen Monteverdi. Schuberts eminentes großes Talent für wendiges Manövrieren im tonalen Raum kommt seinem offensichtlichen Wunsch nach äußerster Sensibilität in der Ausdeutung schnellen wechselnder, subtiler Regungen sehr entgegen, und seine metrische Flexibilität macht die ariosen Abschnitte biegsam und abwechs- lungsreich genug, um sie der harmonischen Unruhe der Recitative anzugleichen. ex

    Wenn man sich zu erklären versucht, warum Schu- bert trotz so vieler musikdramatischer Erfindungs- gabe und so heißem Bemühen auf dem musikalischen Theater innerlich wie äußerlich erfolglos blieb, so läßt sich vielleicht sagen, daß etwa die mit wirklicher Phan- tasie behandelten Ossian-Texte einigermaßen ge- schwollene Literatur sind, an welcher den Komponisten vermutlich in ersten Linie die Naturbilder reizten. Daß

    12 Daß sich — für uns unbegreiflichenweise — doch ein weiteres Publikum für diese Geisterbeschwörungen auf der schottischen Heide interessiert haben muß, beweist das Faktum, daß der als geschäftstüchtig genug bekannte Wiener Verleger Diabelli einige der unvollendet ge- bliebenen Ossian-Szenen nach Schuberts Tod mit Frag- menten aus anderen Kompositionen von Schubert auf- füllte, um sie an den Kunden zu bringen.

    Auf der anderen Seite scheint es, daß Schubert, wenn er wirklich für die Bühne schrieb, irgendwelchen Hem- mungen unterworfen war, die seinen theatralischen Arbeiten ein unglückliches Element von Hausbackenheit und Pedanterie aufzwingen.

    Wenigstens ein kurzes Beispiel aus dem schier langen endlosen Elaborat "Der Tod Ossians" Ossian-Gesang "die Nacht" mag Schuberts Arbeitsweise illustrieren ex. IV 162

    Gewiß handelt es sich hier bei den Ossian-Liedern um ein Jugendwerk des Zwanzigjährigen, aus dem Jahr 1817, aber ge- messen an der kurzen Spanne seines Lebens, ist das hier schon ein Stadium gewisser Reife erreicht. Diese Ossian - Dichtungen Texte erscheinen uns gewiß als schwülstige Pseudo-Literatur und wir glauben zu verstehen, daß eine musikalisch-dramatische Befassung mit ihnen kaum sehr ergiebig sein wird.

    Dabei hat Schubert diese düsteren Schauerszenen, in denen sich Recken und Barden des nebligen Nordens in blutige Stücke hauen, bevor ihre Geister den nächt- lichen Hügel der Hirsche unsicher machen, mit viel wirklicher Phantasie musikalisch ausgestal- tet. Freilich sind es fast immer die Naturelemente, die seine Erfindungsgabe anregen — "der Strom des Berges erbraust" ex. p. 163

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    - "vom Baum beim Grabe der Toten tönt der Eule klagender Sang"- ex. p. 164 - "die verwelkte, zum Knäuel verworrene Klette treibt der Wind über das Gras "- p. 166 "es ist der leichte Tritt eines Geists" p. 166. Von einer Charakterisierung der Personen, die in diesen balladesken Dialogen auftreten, ist freilich viel weniger zu bemerken. Ob Shilrik oder seine Geliebte Vinvela, ob die feindlich-freundlichen Brüder Oscar oder Dermid singen, läßt sich musi- kalish kaum unterscheiden.

    Über die innere und äußere Erfolglosigkeit des Theaterkomponisten Schubert ist schon so viel nachgedacht und geschrieben worden, daß weitere Erklärungsversuche sich erübrigen dürften. Jedoch, da alle Theorien dieser Art spekulativ sind und an einer an sich bedauerlichen Tatsache nichts ändern, so mag hier eine weder mehr noch weniger stichhaltige riskiert werden. Ein Vergleich mit Beethoven und Mozart wird uns dem Gegenstand vielleicht näher bringen. Kaum jemand dürfte zögern, Beethoven einen dramatischen Komponisten zu nennen. Seine Sinfonien sind Monumente gewaltiger Spannungen, voll von explosiven Kontrasten kraftgeladenen Anti- thesen, die das tragische Aufgewühltsein des Menschenlebens symbolisieren wie kaum ein künstlerisches Bekenntnis seit Michelangelo oder Shakespeare. Und doch hat dieser Komponist nicht vermocht, seine ausgesprochenen dramatischen Impulse auf der Opernbühne zu über- zeugender Wirkung zu bringen. Die große und mehrfach unter Schmerzen wiederholte Austrengung des "Fidelio" ergibt einige wundersame Musikstücke, aber keinen mitreißenden dramatischen Fluß. Schon der Entschluß, ein so unmögliches Libretto wie den Fidelio in Musik zu setzen, verrät eine souveräne Gleichgültigkeit gegenüber

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    den elementaresten Anforderungen der Musikbühne. Aber gerade dieser Entschluß macht Beethovens Inter- durchaus klar, was Beethoven interessiert hat, wenn er sich dem Operntheater zuwandte. Ihn bewegte der Mensch, als Repräsentant der Menschheit aber nicht die Menschen, als Individuen. Das Drama, das er im "Fidelio" sah, war der universelle Konflikt zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen Angst und Liebe. Darum ist ja wohl auch der stärkste Moment im "Fidelio" der Gefangenenchor.

    Im Gegensatz zu Beethoven ist Mozart ein theatralischer Komponist, dessen Interese an den zahllosen Individuen, die Gottes großen Tiergarten ausmachen, unerschöpflich ist. Man hat den Eindruck, daß es ihn wenig interessiert, ob Leporello ein gewisses ethisches oder soziales Prinzip symbolisiert — was ihn zu den wundersamsten Erfin- dungen bei der musikalischen Ausstattung dieser Partie bewegt, ist seine unaufhörliche Freude an der Vorstellung, was dieser Leporello doch für ein saftiger Kerl ist, wieviel gefühlsmäsige und idiomatische Nuancen in ihm stecken, wie er sich wohl in dieser oder jener Situation benehmen wird, kurzum, was für ein Individuum er ist. Das sind die Züge, die einen wirklichen Theaterkomponisten ausmachen. Man findet sie wieder bei Verdi und Puccini, in etwas anderer Ausprägung auch bei Wagner.

    Das Schubert hingegen scheint sich mit den Charakteren, die ihm die dramatischen Sujets bieten, kaum irgendwie zu identifizieren, und gerade darin liegt wohl der wesentliche Unterschied zwischen dem Dramatiker und Theatraliker einerseits und dem Lyriker andrerseits. In einem gewissen Sinn ist der Lyriker objektiver als die beiden anderen, da er die menschlichen Gemütszustände und Gefühls-

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    regungen, die die Gegenstände seiner künstlerischen Gestal- tung sind und ihn zu dieser anregen, von dem einmaligen, individuellen Subjekt, in welchem sie sich manifestieren, ab- löst und gewissermaßen abstrakt darstellt. Das lyrische Subjekt der Müller-Lieder ist kein bestimmter Müllerbursche, den eine emotionelle Enttäuschung auf die Wan- derschaft schickt — wir wissen nichts über seinen Charakter, über die Wesenszüge seiner Persönlichkeit, die den Konflikt mit der völlig unbekannt verbleibenden schönen Müllerin her- aufbeschworen haben mögen, wir erfahren nichts über die Situationen, die die Enttäuschung, den Bruch und den Entschluß zum Wandern herbeigeführt haben — lauter Dinge, die für eine dramatische Gestaltung des Stoffes von wesentlichem Interesse wären. Wir wissen ebensowenig über den Anonymus, der sich auf die traurige Winterreise be- gibt, und die unzähligen Fischer, Jäger, Krieger, Dichter, Schiffer, Ritter, Nonnen, Reiter, Wanderer, die Unglücklichen, Einsamen, Jünglinge und Greise, die Schuberts lyrische Welt be- völkern, sind ungreifbare Schatten und völlig unpersön- lich. Freilich Sie sind Träger von Empfindungen, und diese freilich leben herzergreifend und schwingen in jedem Ton der zauberhaften Musik, zu der sie An- laß gaben. Der pragmatische Hintergrund dieser Emp- findungen ist oft unerheblich obskur, banal, kleinlich, lächerlich, aber auf jeden Fall unerheblich. Darum tut es auch uns so wenig nichts zur Sache, wie es offenbar auch Schubert nicht bekümmerte, daß die Empfindung in vielen Fällen in einer abgeschmackten und beinahe albernen sprachlichen Fügung ausgesprochendrückt war. Ihn intereressiert es wenig, warum und wodurch ein Mensch enttäuscht wurde, und noch weniger, was das für ein Mensch das ist, sondern nur, welche Nuancen und Gefühlsschwebungen sich als Reaktion er- geben, wenn der enttäuschte Mensch auf einen gefrorenen Fluß starrt.

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    Merkwürdigerweise treten die Konturen individueller, konkre- ter Persönlichkeit noch am ehesten hervor in manchen jener Lieder, die vom Dramatischen am weitesten abstrahiert sind. Jenes große Lied "Delphine", das wir früher betrachtet haben, hat starke gestische Momente und eine Direktheit der Aus- drucksintensität, mit denen eine Bühnendarstellerin schon viel anfangen könnte. Ein anderes, aus dem selben Drama "Lacrimas" exzerpiertes Lied, "Florio", hat ähnliche Züge. Auch der Dialog zwischen dem Zwerg und der Königin in der Ballade, die wir besprochen haben, hat theatermäßige Eindringlichkeit und weist den beiden Partnern klar pro- filierte Ausdruckscharaktere zu. Damit verglichen wirken die Ossian-Gesänge, die wirklichen dramatischen Dialog enthalten, trotz des Farbenreichtums ihrer Naturillu- strationen merkwürdig steif, und das trifft noch mehr zu auf Schuberts direkte Opernversuche.

    Man könnte sagen, daß sein unvergleichliches Genie sich in der Momentaufnahme der Gefühlsbewegungen erschöpfte. Er kann die selbstverzehrende Qual der liebenden Delphine darstellen wie kein anderer, weil sie für ihn keine Geschichte hat. Wir wissen nicht, was sie in den von uns Schubert beobachteten Moment gebracht hat, und wir wissen nicht, was aus ihr werden wird, und der Komponist weiß es ebensowenig. Es scheint, als ob es seine Beobachtungs- und Erfindungsgabe lähmen würde, wenn er mit der Kontinuität eines dramatischen Verlaufs, mit den Verstrickungen in der Zeit sich entwickelnder Schick- sale und mit dem geschichtlichen Werden von Persönlich- keiten konfrontiert wird. Vielleicht hat das seine die Hemmungen verursacht, die man in seinem Opernschaffen spürt und die die- sem die Überzeugungskraft genommen haben. Wir haben uns dabei über keinen Verlust zu beklagen, denn wir sind mit dem, was er uns gab, reicher beschenkt als wir verdient haben. Wenn wir diesen Fall besprechen und bedauern, so geschieht es nur, weil Schubert selbst sich so sehr um die Oper bemüht hat und weil ihm jeder zusätzliche Grad von persönlicher Befriedigung zu gönnen gewesen wäre.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    [Vortrag für eine Radiosendung des SWF über Liedkompositionen von Franz Schubert]

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    20

    Signatur

    LM-085

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Musikalische Analyse, Instrumentale Kammermusik
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