E. K. spricht über seine Erfahrungen in
Amerika für die Vortragsreihe
Clemm von
Hohenberg.
Ein musikalisches Werk von mir, das für den 7. März 1933 auf dem Programm eines der grös-
seren Orchester Deutschlands stand, wurde sogleich abgesetzt, als die Ergebnisse der Reichs-
tagswahl vom 6. März jenes Jahres bekannt wurden. Das gab mir, der ich damals in meiner
alten Heimatstadt Wien wohnte, hinreichenden Aufschluß darüber, was ich als Komponist vom
nationalsozialistischen Regime zu erwarten hatte. Die einzige Stelle, an der ich im dama-
ligen Deutschland noch erscheinen konnte, war die Ausstellung der sogenannten entarteten
Kunst in Düsseldorf. Die Abneigung beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. In den Jahren,
die dem freien Oesterreich noch beschieden waren, bin ich in Wort und Schrift für die Un-
abhängigkeit meines alten Vaterlandes eingetreten, besonders in einer langen Reihe von Bei-
trägen für die "Wiener Zeitung", in Artikeln für die Zeitschrift "Der Christliche Stände-
staat" und in Vorträgen verschiedener Art. Ich kann nicht sagen, daß die damaligen Macht-
haber Oesterreichs meine Bereitschaft, sie in ihrem Abwehrkampf gegen die Nationalsozia-
listen zu unterstützen, mit Wohlwollen oder Verständnis begrüßten. Jedoch wünsche ich
heute darüber nichts mehr zu sagen. Auf jeden Fall wußte ich, daß, obwohl ich nach den
eigentümlichen Auffassungen der nationalsozialistischen Philosophie rassisch einwandfrei
war, ich eines Ehrenplatzes im Konzentrationslager sicher sein durfte, wenn es den Ver-
waltern des Dritten Reiches gelingen sollte, Hand an mich zu legen.
Trotzdem war meine erste Amerika-Reise in 1937 keine Flucht vor der jahrelangen
Drohung, da ich zu jener Zeit immer noch daran glaubte, daß Oesterreich sich irgendwie
würde behaupten können. Ich wurde damals von der sogenannten Salzburg Opera Guild einge-
laden, an ihrem Gastspiel in den Vereinigten Staaten teilzunehmen und an der Vorbereitung
von Monteverdi's Oper "Die Krönung der Poppäa", die ich für die Opera Guild neu bearbeitet
hatte, mitzuwirken. Ich plante, den Sommer 1938 wieder in Oesterreich zu verbringen, und
weitere Besuche Amerikas nach Bedarf vorzubereiten. Als ich im Februar 1938 nach Europa
zurückkehrte, fand ich den Rückweg nach Wien alsbald versperrt. Ich war über Nacht ein
Flüchtling geworden. Die folgenden Monate waren schwierig. Der einzige Weg, der sich als
gangbar zeigte, war die Rückkehr nach Amerika, nicht mehr als ein vorübergehender Besu-
cher, sondern als Einwanderer, der sich eine neue Existenz zu gründen hatte.
Das große Land über dem Ozean erwies sich als ein ebenso gastlicher wie schwieriger
Boden. Die Einstellung Amerikas gegenüber den neuen Einwanderern war eine widerspruchs-
volle Kombination von Respekt für die große Tradition Europas und Bedenken gegen Ueber-
fremdung. Da es zu jener Zeit über Europa immer dunkler wurde und besonders die Zukunft
Oesterreichs mehr denn zweifelhaft aussah, ergriff ich die jedem Einwanderer gebotene und
nahegelegte Möglichkeit, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Da ich Oesterreich stets
als den Träger der Idee des alten, übernationalen Reiches angesehen hatte, in welchem
viele Völker in Frieden und Freiheit zusammen wohnen konnten, war es mir überzeugungs-
mäßig durchaus genehm, ein Bürger der großen Republik zu werden, die so viele Menschen un-
gezählter Nationalitäten unter dem Banner von Freiheit und Fortschritt zu einer neuen Ge-
meinschaft vereinigt hatte.
Das erste Jahr in Amerika war hauptsächlich der Konzert- und Vortragstätigkeit ge-
widmet, die mich fast durch alle Staaten der Union führte und mir so eine schnelle und ein-
dringliche Bekanntschaft mit dem unermeßlich scheinenden Lande vermittelt. Regionale Ver-
schiedenheiten, die selbst vielen Amerikanern nur verschwommen bewußt sind, wurden mir so
zu greifbarer Wirklichkeit.
Um Erwerbsquellen von größerer Verläßlichkeit zu erschließen, schien es zu jener
Zeit notwendig, sich der Lehrtätigkeit zuzuwenden. Meine erste Stellung auf diesem Gebiet
war am Vassar College in Pouhkeepsie in der Gegend von New York. Vassar College ist eine
der führenden Hochschulen für Mädchen in Amerika, ein gediegenes Institut von großer Tra-
dition und sehr hohen Ansprüchen an gründlichste Gelehrsamkeit. Da ich in Europa niemals
an einer Schule tätig gewesen war, sah ich meinem ersten Lehrauftrag mit etwas gemischten
Gefühlen entgegen. Zu meiner Genugtuung konnte ich entdecken, daß mir das Unterrichten
nicht nur viel Freude machte, sondern daß ich auch sehr bemerkenswerte Resultate erzielte.
Trotz seines bedeutenden geistigen Niveaus bot Vassar College einem Musiker von
meinem Kaliber doch nur einen beschränkten Wirkungskreis, und so nahem ich nach drei
Jahren eine Stellung an der Hamline Universität in St. Paul, Minnesota, an. Obgleich klei-
ner und weniger angesehen, hatte dieses Institut den Vorzug, daß es mir eine leitende
Stellung und volle Unabhängigkeit in der Gestaltung meines Tätigkeitsgebietes anbot. Ich
war Direktor der Musikabteilung und Dekan der Schule der Schönen Künste, die auch die
Studien in den theatralischen und bildenden Künsten einschloß.
Vortrag für Rot Weiss Rot, Salzburg,
gesprochen in KFAC, Los Angeles, Oct. 1952
2.
Meine Arbeit an Vassar College hatte sich auf Musiktheorie und Komposition beschränkt.
Die großartige Musikbibliothek, die ich dort vorfand, wies mich immer stärker auf das
Gebiet der Musikgeschichte hin, das mir in Europa ziemlich fremd geblieben war, zum Teil
weil der Anreiz dazu fehlte, und auch weil die freiheitliche Organisation der amerikani-
schen Bibliotheken so viel mehr zur Benützung einlud als das steife Zeremonial der euro-
päischen Bibliotheken, die ich kennen gelernt hatte. Ich befaßte mich besonders mit der
Musik des Mittelalters vom Gregorianischen Gesang bis zur Polyphonie des fünfzehnten
Jahrhunderts, da ich darin viele faszinierende Hinweise auf die Probleme fand, die sich
in meiner eigenen Kompositionspraxis ergaben.
In meiner Lehrstellung in St. Paul hatte ich Gelegenheit, meine musikhistorischen
Interessen in praktische Arbeit umzusetzen, da ich dort die fortgeschrittenen Kurse in
Musikgeschichte selbst halten konnte. Gemeinsam mit einigen meiner besten Studenten gab
ich zwei Bände musikwissenschaftlicher Studien heraus, die viel Beachtung fanden.
In St. Paul stand ich in enger Verbindung mit dem Dirigenten Dimitri Mitropoulos,
der damals das Symphonie-Orchester des benachbarten Minneapolis leitete. Es erfüllt mich
mit großer Freude, daß meine Beziehung zu dem hochbedeutenden, ungewöhnlichen Mann sich
zu dauernder Freundschaft entwickelt hat.
Mitropoulos war auch Mitglied des leitenden Kommittees der lokalen Zweigstelle der
Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, die ich im Auftrag des Direktoriums der
amerikanischen Sektion in St. Paul gründete. Die Tätigkeit der Zweigstelle gestaltete
sich sehr erfolgreich, da manche hervorragende Interpreten ihre Mitwirkung freundlich
zur Verfügung stellten. Wir gaben jedes Jahr vier bis fünf Konzerte, deren Programme
oft über die Radiostation der Universität von Minnesota wiederholt wurden, so daß der
neuen Musik ein weites Gebiet erschlossen wurde, das mit ihr bis dahin nur wenig Bekannt-
schaft gemacht hatte.
Ein Teil der Sommerferien war der Lehrtätigkeit an den Sommerkursen gewidmet, die
viele Universitäten Amerikas regelmäßig veranstalten. Während zweier Sommer war ich an
der Universität des Staates Michigan beschäftigt. Gleichfalls im mittleren Westen ist
die Staatsuniversität von Wisconsin, an der ich während dreier Sommer unterrichtete.
Ein weiterer Lehrauftrag dieser Art brachte mich für vier Sommer an die Staatsuniversität
von New Mexico - das märchenhafte Land auf den südlichen Hochplateaus, farbenreich und
geheimnisvoll mit seiner starken alt-spanischen und indianischen Atmosphäre.
Nach fünf Jahren angestrengter Arbeit in St. Paul begann mich nicht nur das Harte
und unwirtliche Klima Minnesotas zu ermüden, sondern ich bemerkte auch, das mein Enthu-
siasmus für die organisatorische Schularbeit nachzulassen anfing. Seit ich auf
meiner ersten amerikanischen Reise Kalifornien kennen gelernt hatte, wurde meine Sehn-
sucht nach dem Wunderland am Stillen Ozean, seinen Bergen und Wüsten, immer stärker,
durch wiederholte Besuche stets gefördert. So beschloß ich in 1947, meine Stellung in
St. Paul aufzugeben und nach Los Angeles zu übersiedeln, obgleich sich dort zunächst
kein fest umschriebenes Tätigkeitsgebiet eröffnete. In den fünf Jahren, die seither ver-
gangen sind, habe ich entdeckt, daß die Unabhängigkeit des Lebens in der prachtvollen
Natur Kaliforniens die relative Unsicherheit, die ich auf mich zu nehmen hatte, wohl
aufwiegt.
Während all dieser Jahre habe ich Musik komponiert, was ich stets als das Haupt-
anliegen meiner irdischen Laufbahn betrachtet habe. Ab und zu ist die Frage diskutiert
worden, ob und in welcher Weise die Verpflanzung in die neue Welt das Schaffen der da-
von betroffenen Künstler beeinflußt habe. Ich habe weder an mir selbst noch an anderen
Komponisten beobachtet, daß das Erlebnis der Auswanderung einen grundlegenden Einfluß
auf ihr Werk gehabt hätte. Natürlich gibt es Einwirkungen äußerer Art, indem etwa lo-
kale Bedingungen den Künstler auf ein Gebiet hinweisen, das ihm ohne solche Anregung
ferner gelegen hätte. So zum Beispiel habe ich während meines Aufenthaltes in Minne-
sota eine Reihe von Chorwerken geschrieben, da die Schule, an der ich lehrte, einen
ganz hervorragenden Chor hatte, dessen ungewöhnlicher Dirigent sich für die schwierig-
sten Aufgaben des a capella Singens mit Begeisterung interessierte. In Los Angeles gab
es wiederum viel Anregung für kammermusikalisches Schaffen, da die zahlreichen ausge-
zeichneten Instrumentalisten, die in den verschiedenen Filmstudio-Orchestern beschäf-
tigt sind, sich sehr gern mit neuer, anspruchsvoller Musik befassen, um sich von ihren
nicht besonders interessanten beruflichen Aufgaben etwas zu erholen. Vier neue Klavier-
sonaten und Gruppen kleinerer Klavierstücke sind enstanden, zum Teil aus dem Bedürfnis
3.
nach Material für meine eigene Tätigkeit als gelegentlicher Interpret meines Schaffens.
Da die großen Symphonie-Orchester aus kommerziellen Gründen gegenüber zeitgenössischer
Literatur sehr zurückhaltend sind, habe ich auf diesem Gebiet verhältnismäßig wenig ge-
leistet: zwei Symphonien und ein Variationenwerk. Hingegen war eine Reihe von Konzerten
für verschiedenen Solo-Instrumente und Orchester Kompositionsaufträgen zu verdanken.
Auch die Oper, der ich in Europa für Jahre den größten Teil meiner Aufmerksamkeit gewid-
met hatte, zeigte sich als ein weniger versprechendes Arbeitsgebiet, da das einzige
Opernhaus Amerikas, das sich in Organisation und Leistungsfähigkeit mit den europäischen
Bühnen vergleichen läßt, die Metropolitan Opera in New York, für neue Werke nur ganz aus-
nahmsweise in Frage kommt. Ich habe drei Kammeropern von mehr experimentellem Charakter
geschrieben, von denen bisher nur eine von den an vielen amerikanischen Schulen entstan-
denen Opernlaboratorien absorbiert wurde. Die zweite wurde erst nach dem Krieg in Deutsch-
land aufgeführt, und die dritte harrt noch einer Wiedergabe.
In allen diesen Werken habe ich die stilistische Linie weitergeführt, die in meinen
letzten europäischen Arbeiten angedeutet ist, und von der ich glaube, daß ich sie auch
verfolgt hätte, wenn ich nicht ausgewandert wäre. Beweisen läßt sich das natürlich ebenso-
wenig wie das Gegenteil. Mit anderen Worten, ich habe mich weiterhin mit der Zwölfton-
technik auseinandergesetzt und neue Möglichkeiten ihrer Verwendung ausprobiert, die ich
auch theoretisch dargestellt habe, um dieses zweckmäßige und schmiegsame Instrument den
Ideen anzupassen, die ich zum Ausdruck bringen wollte. Wie ich schon vorausgesehen hatte,
als ich mich um 1929 mit dieser Kompositionsmethode zu beschäftigen begann, erreichte
ich später einen Punkt, an welchem ihre strikte Anwendung nicht mehr so notwendig er-
schien, um die musikalischen Gestalten zu verwirklichen, die mir vorschwebten. Das heißt
nicht etwa, daß ich die Zwölftontechnik, vielleicht unter amerikanischem Einfluß, aufge-
geben hätte. In Wirklichkeit ist es so, daß mehr und mehr amerikanische Komponisten sich
auf ihre Weise mit diesen Problemen auseinanderzusetzen beginnen. Jedoch ich wende die
Technik an, wann, wo, und wie es mir für meine jeweiligen künstlerischen Absichten not-
wendig und förderlich erscheint, ohne mich irgendwie festzulegen.
Bis zu einem gewissen Grad habe ich in Amerika auch meine literarische Tätigkeit
fortgesetzt. Im Jahre 1938 schrieb ich ein größeres Buch "Music here and now", in dem ich
meine künstlerische Philosophie in einer Ueberschau über die Probleme zeitgenössischer
Musik formulierte. Dieses Buch ist eine Fortentwicklung der Ideen, die ich in meinen Vor-
trägen in Wien im Jahre 1936 dargelegt und unter dem Titel "Ueber neue Musik" 1937 in
Wien veröffentlicht hatte. Eine biographische Skizze über Gustav Mahler wurde als Anhang
zu Bruno Walter's Buch über den Meister publiziert. Ein theoretisches Lehrbuch der Zwölf-
tontechnik erschien 1940 in New York. Nach dem Krieg schrieb ich ein Buch über amerika-
nische Musik für einen Wiener Verlag, und eine kurze autobiographische Selbstdarstellung
für ein Schweizer Verlagshaus. Diese wir nun auch bald in Englisch erscheinen. Kürzlich
habe ich ein kleines Buch über den flämischen Meister des fünfzehnten Jahrhunderts, Jo-
hannes Ockeghem, vollendet, das in New York gedruckt werden wird. Zahlreiche Artikel für
Zeitschriften und Zeitungen vieler Länder haben diesen Zweig meiner Tätigkeit ergänzt.
Der Kontakt, den ich in den letzten Jahren mit Europa wieder aufgenommen habe, hat
mein Interesse am musikalischen Theater wieder aufleben lassen. Ohne andere Aufgaben-
kreise ganz zu vernachlässigen, habe ich mich neuerdings wieder auf die Schaffung einer
Oper im großen Stil konzentriert, ein Werk, das das geistige Format, das ich in "Karl V."
angestrebt habe, in neuer, gewandelter Form und auf einen anderen Inhalt angewendet,
wiederum verwirklichen soll. Ich hoffe, mit diesem Werk in nicht zu ferner Zukunft vor
die europäische Oeffentlichkeit treten zu können.