[Einführungsvortrag zu Arnold Schoenberg's Orchestervariationen opus 31]

Abstract

In einem Einführungsvortrag im Radio Hamburg im Dezember 1965 setzte sich Ernst Krenek mit Arnold Schönbergs eigener, ausführlichen Analyse seiner Orchestervariationen op. 31 auseinander. Mit größter Ehrfurcht beschreibt Krenek Schönberg als Komponist, der „eine Revolution des musikalischen Denkens, Schaffens, Erlebens eingeleitet hat, die in der Musikgeschichte ihres gleichen sucht.“ Trotzdem spart er nicht mit kritischen Kommentaren, die zwar weder das Werk, noch Schönbergs Status als Komponist schmälern, sondern vielmehr Schönbergs 1931 formulierten Einschätzung der Schwierigkeiten des Publikums mit Neuer Musik Gedanken entgegenhalten, die zum einen Kreneks eigene Erfahrungen mit diesen Schwierigkeiten widerspiegeln, zum anderen sicher auch die zeitliche Distanz zwischen Schönbergs und Kreneks Vortrag deutlich machen.

Arnold Schönbergs Einführungsvortrag zu seinen Orchester- variationen opus 31 bestätigt, was sich aus allen anderen lite- rarischen Äußerungen des Meisters großen Mannes entnehmen läßt: sein Denkstil und die Grundsätze, nach denen er seine Ge- danken formt, sind aufs tiefste verknüpft mit der Geisteshaltung des 19. Jahrhunderts, was zunächst im Widerspruch zu stehen scheint mit der unbestreitbaren Tatsache, daß er als Komponist eine Revolution des musikalischen Denkens, Schaffens, Erlebens ein- geleitet hat, die in der Musikgeschichte ihresgleichen sucht.

Daraus erklärt sich, daß er sich einerseits als einsamen, mit göttlichem Auftrag ausgerüsteten Pionier in unbekanntem, gefahrvollen Territorium sieht, anderseits aber stets betont, daß seine Entdeckungen keineswegs absurd sind, sondern sich mit zwingender Logik aus der erhabenen Tradition ableiten lassen, so daß sie dem jedem einleuchten müssen, der an den unentwegten Fortschritt der Menschheit glaubt und die Anstrengung, ihn mitzumachen, nicht scheut.

Es kann nicht ausbleiben, daß diese widerstreitenden Vor- aussetzungen den furchtlosen Denker in mancherlei Schwierigkeiten verwickeln. Diese treten schon in seinen einleitenden Überlegungen auf. Er unterscheidet Recht und Macht der Mehrheit und weist darauf hin, daß nicht die Mehrheit zur die besonderen Leistung nicht von der Mehrheit, sondern nur vom hervorragenden Einzelnen der produziert werden kann. Das ist aber nicht so sehr eine Frage der Macht, als vielmehr eine der Fähigkeit. Schönberg sagt verlangt, daß dem kühnen Einzelgänger Rechte eingeräumt werden sollten als Kompensation für die Gefahr, die er auf sich genommen hat. Er gibt zu, daß die Mehrheit gewillt ist, dem Pionier auf materiellem Gebiet - dem Nordpolfahrer, dem Ozeanflieger - solche Kompensation zu gewähren, weil seine Leistung früher oder später als für die Mehrheit nutzbringend er- kannt wird. Der Einzelgänger auf geistigem Gebiet setzt sich keinen so dramatischen Gefahren aus - er riskiert höchstens eine kümmerliche Existenz - und die Nützlichkeit seiner Leistung - wie etwa die Erfindung der Zwölftontechnik - ist alles andere als einleuchtend. Das Recht der Minderheit, das er in Anspruch nimmt anruft, ist also nicht wirklich sein Anspruch auf Kompensation für ausgestandene Gefahr, sondern es ist das Recht der jener Minderheit, die seine ausgefallene Botschaft zu ver- nehmen wünscht.

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Wenn Schönberg sagt, daß neue Musik niemals von allem Anfang an schön ist, so meint er gewiß, daß sie zunächst von der Majorität nicht als schön empfunden wird. Dieses "schön" steht also ge- wissermaßen in Auführungszeichen. Der Komponist und die ihm zugetane Minorität finden die neue Musik schon bei ihrem Er- scheinen schön. Die Beispiele, die Schönberg anführt, um seine Behauptung zu stützen - Verdi, Puccini, Rossini, Bizet - sind insofern nicht ganz überzeugend, weil der Stil dieser Werke Autoren nicht auch in Relation zu dem ihrer Zeitgenossen nicht besonders neu erscheint. und weil Auch des zweite Kriterium, das Schönberg anführt, trifft auf Wenn Schönberg sagt, daß nur das gefallen wird , was man sich merken kann, und daß man sich nur das merkt, was hinlänglich oft wiederholt wird, so erklärt das gleichfalls kaum, warum die ange- führten Komponisten der Mehrheit nicht gefielen, denn abge- sehen davon, daß sie kaum umstürzend neu waren, sie sind ihre Arbeiten auch voll von Wiederholungen. Schönberg zitiert ausdrücklich Madame Butterfly wegen der persistenten Wiederholung kleiner Phrasen, obwohl gerade dieses Werk Oper auf seiner ersten Liste der wegen ihrer Neuheit zunächst abgelehnten Werke steht.

Schönberg schreibt die Schwierigkeiten, die sich seinem eigenen Be- streben, sich musikalisch mitzuteilen, entgegensetzen, mit Recht dem Umstand zu, daß seine musikalische Tonsprache von der traditionellen grundsätzlich verschieden ist, und daß er außer- dem wörtliche Wiederholungen vermeidet. Die selbe ist ung an den unentwegten Fortschritt auch in der Kapazität der Hörer an die der zwingenden Logik, die der Komponist in der sukzessiven Entwicklung eines musikalischen Themas durch verschiedene, nach dem Muster von Ursache und Wirkung miteinander verknüpfte Phasen zu lassen in Erscheinung treten zu lassen vermochte. Dem fortgeschrittenen Hörer muß zugetraut werden, daß er eine solche Entwicklung auch verfolgen kann, wenn mehrere ihrer Glieder übersprungen werden. Schönberg vergleicht das mit dem den verbalen Prozeduren, die zur Erklärung komplizierter technischer Phänomene nötig sind. Während dem Laien alles von Grund auf er- klärt werden muß, findet die sicherste und schnellste Verständigung von Fachmann zu Fachmann statt.

Das hat seinen Grund in dem für das 19. Jahr- hundert so typischen Glauben an die kon- stante Verbesserung der technischen Mittel. Der progressive Komponist braucht die Wieder- holungen, die seine Vorgänger noch nötig hatten, um eine sie selbst befriedigende Form aufzubauen, nicht mehr; er kann den gleichen Zweck schneller und direkter erzielen. Diese mentale Disposition macht der Schönberg auch an den unentwegten Fort- schritt in der Kapazität der Hörer glauben. Die artistische Perfektion eines Werkes ist zu erkennen 3 Min. 3

Auf die Musik selbst angewendet, wäre das eine sehr bedenkliche Theorie. Denn es würde besagen, daß das, was der fortschrittliche oder moderne Komponist schreibt, nur von seinesgleichen wirklich verstanden werden kann, und das ist genau das Argument, das sich die artikuliertesten Gegner der neuen Musik zueigen gemacht haben. Schoenberg hofft, daß die Minorität jener, die schon jetzt seinem zielstrebig ungeduldigen musikalischen Denken folgen können, früher oder später zu einer Majorität, ja vielleicht sogar identisch mit der Allgemeinheit werden würde. Eigenartig ist es aber, daß er als in der verbalen Diskussion seiner Ideen weit weniger optimistisch war. Da verfuhr er oft wie jemand, der, um das Automobil zu erklären, mit den Grundbegriffen der Physik anfängt. Ich erinnere mich, wie Artur Schnabel einst nach einem Vortrag von Schönberg in New York bemerkte. "Schade, daß er immer bei A anfängt und deshalb nie weiter kommt als höchsten C. Er vergißt, daß viele von uns schon bei M angelangt sind halten, und hergekommen herkommen sind ihn zu hören, weil wir glauben, daß er so viel weiß von dem weiß, was nach M kommt."

Etwas davon finden Die Bemühungen, dem der vorgestellten bescheidenen Verständnisfähigkeit der Hörer entgegenzu- kommen, ist deutlich bemerkbar etwa in dem Passus, mit dem Schönberg das Wesen der Zwölftontechnik und ihre Bedeutung für sein Variationenwerk streift - denn mehr als "streifen" kann man das kaum nennen. Zunächst macht er seiner alten Abneigung gegen das Wort "atonal" Luft und schlägt vor, es durch non-tonal zu ersetzen, womit eine Musik bezeichnet werden soll, die das "Aufkommen und den Ausdruck einer Tonart" nicht zuläßt. Genau diesen Sinn das haben aber vernünftige Theoretiker dem Wort "atonal" ohnedies unterlegt, und es ist nicht ganz klar, warum das lateinische non dem griechischen A Alpha privativum vorzuziehen wäre. Es mag freilich sein, daß zur Zeit von Schönbergs Vortrag noch wenigstens in seiner Erinnerung noch etwas von der giftigen Invektive lebendig war, die die Erfindung Prägung des Wortes atonal beglei gezeitigt hatte.

Was der Erfinder der Zwölftontechnik hier über diese selbst sagt, läßt sich nur damit erklären, daß er in Wirklichkeit vermutlich gar nichts sagen wollte, und den Gegenstand nur erwähnen zu müssen glaubte, weil er annehmen mußte, daß das Publikum schon etwas etwas l

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läuten gehört hatte. Er sagt: "Wie ehedem einem Stück eine Tonart zu Grunde gelegt wurde, so bildet jetzt eine Reihe von zwölf Tönen das Material, aus welchem alle Gestalten, Melodien, Phrasen und Motive und alle Zusammenklänge erzeugt werden." Das klingt so, als ob die Funktion der Tonart in der traditionellen Musik die gleiche gewesen wäre wie die der Zwölftonreihe in der neuen. Daß die Tonart in der alten Musik keine Gestalten, Motive, Phrasen u. s. w. erzeugt, wußte Schönberg natürlich ganz genau, denn eben deshalb erfand er ja die Zwölftontechnik, weil sie durch das Erzeugen von Gestalten ein neues vereinheit- lichendes Prinzip darbot. Wenn er weiter sagt, daß die Zwölfton- technik sich von der tonalen Kompositionsweise nur dadurch unterscheidet, "daß alle zwölf Töne angewendet werden, ohne daß sie auf einen Grundton bezogen sind und daß die frühere Technik der Dissonanzbehandlung hier nicht mehr ange- wendet wird", so ist das eine genaue Beschreibung der Atona- lität, sagt aber über das Wesen der Zwölftontechnik über- haupt nichts aus.

durch die Konventionen der Funktionalharmonie eine vereinheitlichende Wirkung ausübt, ohne daß sie

Offensichtlich will er auf den Gegenstand nicht weiter eingehen. Er entschuldigt sich für die zusätzliche Schwierig- keit, die die Anwendung dieser Technik seinem Wunsch, sich mitzuteilen, in den Weg legt, und läßt es dabei be- wenden. In einem Vortrag an der Universität von Kalifor- nien in Los Angeles 1941 hat Schönberg sich ausführlicher über die Reihentechnik seiner Variationen verbreitet und vor allem daß eine eine die Eigentümlichkeit seiner Zwölftonreihe hervorgehoben, die darin besteht, daß die zweite Hälfte in der um eine kleine Terz transponierten Umkehrung der Reihe dieselben Töne enthält wie die erste Hälfte der Originalreihe, natürlich in anderer Reihenfolge. In anderen Werken hat Schönberg dasselbe dieselbe Relation von Original und Umkehrung durch Transposition um eine Quinte erzielt, obwohl die musikalische Bedeutung dieser Beziehung nicht ganz ersichtlich ist hat Schönberg er selbst darauf großen Wert gelegt. Es ist daher eigenartig, daß er in der vorliegenden Analyse auf den Gegenstand überhaupt nicht eingeht.

und von Schönberg selbst niemals überzeugend erklärt wurde, 2,30" 5

Es liegt ihm augenscheinlich viel mehr daran, das Publikum in sein neues Idiom einzuführen, ihm den Unterschied zwischen der alten tonalen Tonsprache und seiner neuen atonalen klarzumachen und es gleichzeitig dahin zu beruhigen, daß der Unterschied nicht das Wesen der Musik betrifft. Wahr- scheinlich entspricht das der Bewußtseinslage der damaligen Zeit, wo das Klangbild der Atonalität noch befremdend ge- nug war als daß man die Hörer mit den Komplikationen der Zwölftontechnik noch mehr zu verwirren wünschen mochte. Schönbergs Versuch, sein Variationenthema in F-dur zu harmonisieren, ist wohl von ihm selbst kaum ernst genommen worden. Im Gegenteil: gerade weil daß der Versuch mißglückt, empfiehlt die originale atonale Einkleidung des Themas als die einzig richtige. Wenn er von seiner Harmonisierung sagt: "Es ist ein ganz gutes F dur", so hört man deutlich den schalkhaften Tonfall, mit dem er das hervorbringt äußert.

Wie sehr Schönbergs Denkweise in der Tradition des Klassizismus verwurzelt ist, geht besonders deutlich aus der Diskussion des Finale hervor. Er findet, daß die Meister sich stets darum bemüht haben, eine nicht bloß Komposition nicht bloß formal zu einem angenehmen Aufhören zu bringen, sondern auch, "einen Schluß zu ziehen, zu einer Sentenz zu gelangen", d. h. in anderen Worten, den Verlauf des Werkes als eine Sequenz logisch miteinander verknüpfter Ereignisse erscheinen zu lassen, die zu einem mit Notwen- digkeit sich aus dieser Sequenz ergebenden Resultat führen. Das erscheint ihm als ist für ihn das Wesen der sinfonischen Dar- stellungsweise, und daß diese als jeder anderen überlegen erscheint, zeigt sich darin, daß Schönberg seinen Variationen, die eine Reihe von nebeneinandergestellten Ansichten desselben Gegenstandes darbieten, ein sinfonisches Endstück gesellen will, das "die musikalischen Bilder, die Themen, Gestalten, Melodien, Episoden, einander wie die Schicksalsfügungen in einer Lebensgeschichte folgend, bunt zwar, aber dennoch logisch und stets verbunden und auseinander hervorgehend" erweisen würde.

Wir sind heute geneigt anzuerkennen, daß uns die Schick-

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salsfügungen einer Lebensgeschichte zwar als auseinander her- vorgehend erscheinen, weil sie einander zeitlich folgen, aber gleich- zeitig empfinden wir die Vorstellung, daß sie deshalb eine logische Folge von Ursache und Wirkung darstellen, als eine Illusion. Wir finden daher, daß der katastrophische Charakter, den vor allem Schönbergs frühe atonale Werke aufweisen, zu dem optimistisch - ver- trauensvollen Tenor seiner literarischen Äußerungen in einem eigentümlichen Widerspruch steht. Unter der Disziplin der Zwölf- tontechnik verschwimmt das Menetekel, das die anarchischen Aspekte der früheren Werke an die Wand gemalt haben. Aber gerade diese Zwölftonmusik führt in der Ausbildung, die ihr Webern hat zuteil werden lassen, zu einer musikalischen Denk- form, die den Glauben an Logik und sinnvolle Entwicklung weiters negiert. Es ist rührend Schönbergs führendes Schluß- wort zu seiner Analyse läßt sich dahin verstehen, daß er sich wohl dessen bewußt ist, daß die wesentlichen Aspekte seines Werkes die Hörer nicht entzücken werden, weil sie im Widerspruch stehen zu eben jenen formalen Aspekten, mit denen er die Hörer zu trösten sucht, indem er sagt, hervorhebt, daß das Werk wenigstens "wohl organisiert, gut durchdacht und nicht ohne Fleiß gearbeitet" ist. Edle Bescheidenheit läßt sich kaum demutsvoller ausdrücken.

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Autor

Ernst Krenek

Titel

[Einführungsvortrag zu Arnold Schoenberg's Orchestervariationen opus 31]

Untertitel

[Vortrag für eine Radiosendung des NDR]

Sprache

de

Material

Papier

Seiten

6

Signatur

LM-048-01

Edition

Digitale Edition in der Erstfassung 2024

Lizenz

CC BY-NC-ND 4.0

Herausgeberin

Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

Bearbeiter

Till Jonas Umbach

Fördergeber

Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

Schlagwörter

Zwölftontechnik, Hörfunk
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