Vortrag für Baden-Baden

Abstract

Für den deutschen Radiosender Südwestfunk fasst Ernst Krenek (vermutlich zum 20-jährigen Bestehen des Senders) seine Beobachtungen zu den Differenzen zwischen deutschen und amerikanischer Radio-Kultur zusammen. Als zentrales, für diese Differenzen verantwortliches Element identifiziert Krenek dabei die Ausrichtung des amerikanischen Radiobetriebs entlang der kapitalistisch motivierten Reklameindustrie. Eine Folge davon ist die Verbannung der Übertragungen Neuer Musik von Strawinsky, Schönberg, Webern und Bartok in die „unverkäuflichen Nachstunden“ zwischen 1 und 6 Uhr. Als Versuch einer alternativen Betriebsform beschreibt Krenek den 1949 gegründeten, von Mitgliederbeiträgen und Freiwilligenarbeit getragenen kalifornischen Radiosender KPFA.

    Vortrag für Baden-Baden SWF

    Eines schönen Tages oder Abends läutet in einem ameri- kanischen Haushalt das Telephon. Wenn die Hausfrau den Hörer abnimmt, fragt eine süße Stimme: "Welchem Radio- programm hören Sie augenblicklich zu?" Das ist nicht etwa die Geheimpolizei, die auf diese Weise herauszufinden auszuforschen sucht, ob jemand einen verbotenen ausländischen Sender ab- hört, da es in erster Linie keine verbotenen Sender gibt. Vorausgesetzt daß er eine entsprechende Empfangs- apparatur hat, kann jeder Mensch jederzeit Timbuktu. oder sogar Moskau einschalten, ohne irgendwelche Schwierig- keiten mit der Behörde zu riskieren. Die süße Stimme kam vermutlich von einer Zweigstelle des von einem Herrn Hooper gegründeten Bureaus, welches davon lebt, dass es herauszufinden sucht, wieviel Menschen gewissen Radioprogrammen zuhören. Zu diesem Zweck werden ununterbrochen zu jeder Tages- und Nachtzeit Num- mern aus den Telephonbüchern des Landes wahllos her- ausgegriffen und angerufen. Die Resultate werden sorg- fältig in Tabellen eingetragen und die Ziffern, die für die verschiedenen Radioprogramme einlaufen, werden als das sogenannte "Hooperating" bekanntgegeben. "Hooperating" ist eines der abscheulichen Worte, die das Kommerzwesen der Sprache hier wie dort anzutun pflegt, kombiniert aus dem Namen des Erfinders, Mr. Hooper, und "rating", was in diesem Zusammenhang "Einschätzung" bedeutet.

    Wer interessiert sich dafür, wie Herrn Hooper's Organisa- tion die verschiedenen Darbietungen des Rundfunks einschätzt? Nach europäischen Begriffen würde man denken, daß etwa die Verwaltung der Rundfunkstation wissen möchte, welches Interesse ihre Darbietungen in der Hörerschaft erwecken, In Amerika ist es nicht die Rundfunkstation, da sie weder Geld noch Mühe ver- wendet, sondern ein Re- klameagent. Die Radioverwaltung tut nichts, als daß sie eine gut funktionierende Sendeapparatur bereit hält und die Zeit für die Benützung dieser Apparatur zum Verkauf anbietet, etwa wie der Besitzer einer Anzahl von Taxis diese an die belebten Straßenecken stellt und auf

    da diese Verwaltung Mühe und Geld auf für das Zustande- kommen dieser Darbietungen aufwendet. 2/

    Kundschaften wartet. Mit anderen Worten, die Radioverwaltung hat nicht den Wunsch, dem Publikum irgendetwas Bestimmtes zu Gehör zu bringen, sondern ist bereit, ihre Maschinerie gegen Bezahlung jedermann zur Verfügung zu stellen, der sich dem Publikum vernehmbar machen will. Der fundamentale Unterschied zwischen dem ameri- kanischen und dem europäischen System liegt auf der Hand. In Europa ist es der Hörer, der dafür bezahlt, daß er etwas zu hören bekommt. In Amerika ist es der Darbieter, der für die Gelegenheit des Gehört- werdens bezahlt.

    Dieser Unterschied geht zurück auf sehr tiefgreifende, wesentliche Differenzen in der Struktur des amerikanischen und des europäischen Kultur- und Wirtschaftslebens. Da Musik hier wie dort bei weitem das wesentliche Objekt des Rundfunks ist, läßt sich der Unterschied weitgehend auf die verschiedene Stellung der Musik in den beiden Erdteilen zurückführen. Der Amerikaner hört Musik ebensogern wie der Europäer, und wenn man nach den Quantitäten von Musik, die der Amerikaner für Stunden des Tages und der Nacht über sich ergehen läßt, urteilen sollte, ist ihm Musik ein weit höheres Lebensbedürfnis als man in Europa ahnen mag. Es gibt kaum einen Markt, ein Restaurant, ein Bureau, eine Bahnhofshalle, einen Eisenbahnwagen, in dem nicht Musik aus irgendwelchen versteckten Lautsprechern herunterrieseln würde. Jedoch das wird als eine Art Einrichtungsgegenstand betrachtet, so wie Fußabstreifer, Seife im Waschraum und Eiswasserautomaten im Stiegenhaus. Das heißt, daß der Amerikaner für diese musikalische Berieselung kein Geld auszugeben wünscht, sondern erwartet, daß sie von jeman- dem geliefert wird, der sich ihm angenehm zu machen trachtet. Dieser Jemand ist der Reklameagent. Er ist es, der die Radiomaschinerie mietet, um die Pro- dukte seiner Kunden anzupreisen, und um sich den Hörern angenehm zu machen, umgibt er seine Werbe- sprüche mit jener Musik, von der er annimmt, daß die Hörer sie am liebsten zu vernehmen wünschen.

    Das Monopol der Reklameagenten über das Radio hat sich ganz von selbst entwickelt und, wie selbst entwickelt, und wie manche

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    der Radioverwalter sagen, ohne deren besonderes Zutun. Als der Rundfunk in seinen Anfängen war und die Techniker für ihre Experimente Geld brauchten, interessierte sich niemand dafür außer den Reklameleuten, die die ungeheuren Möglichkeiten des neuen Mechanismus sahen. Es hätte jemand anderer sein kön- nen - z. B. der Staat, der in den meisten europäischen Ländern seine Hand auf das Radio legte, weil es als eine der Telegraphie verwandte Methode der Nachrichtenübermittlung unter das Postregal fiel. In Amerika ist auch das Telegraphenwesen eine private Unternehmung, so daß die Bundesregierung keine gesetzliche Handhabe zum Eingreifen hatte, selbst wenn sie gewollt hätte. Jedoch der Denkweise der amerikanischen öffentlichen Meinung ist jede staatliche Einmengung in Dinge, die von privaten Unternehmern besorgt werden können, zutiefst verdächtig und verhaßt. Das ist zweifel- los eine im Grunde sehr gesunde Anschauungsweise, führt aber zu bedauerlichen Resultaten auf Gebieten, wo das auf Profit abzweckende private Unternehmertum den höheren kulturellen Interessen nicht gerecht werden kann. Der Durchschnittsamerikaner hat vom europäischen Radio die Vorstellung, daß es eine vom Staat besetzte Propaganda- maschine ist, für deren Benützung die Hörer Steuer bezah- len müssen. Das ganze Ding scheint ihm nach Sozialismus und Diktatur zu schmecken, beides in der amerikanischen Küche äußerst unpopuläre Gerichte. Da diese Vorstellung selbst stark auf antisozialistischer Propaganda beruht, ist sie nicht ganz leicht zu korrigieren. Wir wissen natürlich, daß die Gebühr Taxe, die der europäische Hörer für die Benützung seines Radioap- parates bezahlt, keine Steuer ist, sondern eine Gegenlei- stung für die Darbietungen, die ihm das Radio liefert, genau wie das Eintrittsgeld, das man für Konzerte, Theater- oder Kinovorstellungen bezahlt. Die europäische Idee ist, daß das Radio etwas bietet, was die Leute zu hören wünschen, und es ist nur recht und billig, daß sie dafür etwas bezahlen. In Amerika geht man merkwürdigerweise gewissermaßen von dem Prinzip aus, daß eigentlich niemand etwas zu hören wünscht, was nur ist das, was das Radio ist die Materie, die das Radio primär verbreitet und der es seine Existenz verdankt, nämlich die

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    Botschaft des Reklameagenten etwas, wovon wirklich nicht an- genommen werden kann, daß jemand Geld dafür ausgeben würde, um es anzuhören. Im Gegenteil, um diese Botschaft aufzunehmen, muß der Hören gewissermaßen bestochen. werden, und dazu dient das kulturelle Material, das die Reklamebotschaft begleitet. Der Gesamteffekt ist viel- leicht nicht so verschieden, als man meinen könnte, ob- gleich die Motivation der Programmgestaltung eine total andere ist, wie ich zu zeigen versucht habe. Das ameri- kanische Radiopublikum hört vermutlich etwa ebenso- viel Konzerte ernster Musik wie das europäische, da der Reklamefachmann weiß, daß er alle Schichten der Bevölkerung zu erfassen suchen muß, und daß es eine beachtliche Minorität gibt, die lieber Beethoven als Irving Berlin anhört. Es ist vor allem die neue Musik, die in dem amerikanischen System zu kurz kommt.

    Während das europäische Radio seit seinen Anfängen einer der wichtigsten Schauplätze zur des musikalischen Fort- schritts gewesen ist, hört man im amerikanischen Radio neue Musik fast nur, wenn sie in den regelmäßig übertragenen Konzerten der großen Symphonieorchester vorkommt, und das ist selten genug. Die Ursache ist die ungeheure Zentralisierung und Mechanisierung einer auf geschäftlichen Profit gerichteten Unter- nehmung. Die Zusammenfassung des Radiobetriebes in einige wenige, das ganze Land umspannende Netzwerke hat praktisch zu einer Ausschaltung jener Konkurrenz geführt, die der Amerikaner als eines der wichtigsten Kennzeichen der freien Wirtschaft heilig hält. Konkurrenz existiert - d.h. es toben zwischen den Netz- werken und Reklamefirmen wilde Kämpfe darüber, wer die Dienste von Bing Crosby, oder Dinah Shore und anderen Giganten der Unterhaltungswelt für sich in Anspruch nehmen kann. Jedoch die der in Europa so produktive Wetteifer der Radiostationen in der Erwerbung neuer, bedeu- tender Werke ist gänzlich unbekannt. Der Programm- direktor einer amerikanischen Radiostation hat keinen schlaflosen Augenblick, weil ihm ein anderer die Urauf- führung einer neuen Symphonie abgejagt hat, schon aus dem Grunde, weil es keine Programmdirektoren im

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    europäischen Sinne gibt und weil kein Radio überhaupt Uranfführungen von Symphonien veranstaltet, da die Statio- nen keine Symphonie Orchester haben und kaum lebende Musiker beschäftigen, außer für die Begleitmusik zu den endlosen Hörspielen, die als soap operas - Seifen-Opern - bekannt sind. Alle Musik kommt von Grammophonplatten, und alles, was es auf Platten gibt, wird irgendwann einmal vom Radio ver- breitet. In Los Angeles gibt es eine Station, die 24 Stunden in Betrieb ist, und in den unverkäuflichen Nachtstunden von 1 bis 6 kann der unermüdliche Hörer die interes- santesten neuen Aufnahmen hören, Stravinsky, Schönberg Webern, Bartok - alles was die Reklameleute, die den Tag beherrschen, nicht mit der einer Zuckerzange anfassen würden. Der Allgewalt der Reklamefirmen entzogen sind die nicht auf Profit berechneten Radiostationen der Universitäten, und diese sind nur zu gern bereit, problematische und inter- essante Darbietungen anzusetzen. Da sie jedoch keine Ein- nahmen aus dem Verkauf von Radiozeit haben, können sie keine Honorare bezahlen und sind auf freiwillige Mitwirkung von interessierten Künstlern angewiesen, was einen meiner Freunde dazu veranlaßt hat, Amerika als das zum Lande der "unbezahlten" Möglichkeiten umzutaufen. Vor kurzem hat sich in San Francisco eine Station aufge- tan, die das vorherrschende Prinzip bewußt durchbricht, indem sie keine Zeit an Reklamefirmen verkauft und freimütig an ihre Hörer appelliert, den Betrieb der Station durch Entrichtung von Gebühren zu ermöglichen. Das Experiment wird stark beachtet und hat zunächst einen die Veranstalter selbst überraschenden starken Widerhall und weitgehende Unterstützung im lokalen Publikum gefunden. Man kann nur hoffen, daß es gelingen und Schule machen wird.

    Inzwischen geht der kommerzielle Betrieb seinen Gang. Um die Botschaft den Hörern noch schmackhafter zu machen und sie umso sicherer an den Apparat zu bannen, hat man seit ein paar Jahren immer mehr Gebrauch von den

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    sogenannten Quiz-Programmen gemacht, im in deren Verlauf die Hörer per Telephon oder auf andere Weise allerlei mehr oder we- niger geistreiche Fragen zu beantworten haben. Die Belohnungen für richtige Ant- worten reichen von Tasch Armbanduhren und Seidenstrümpfen zu Automobilen und Fe- rienreisen nach Florida. Ich kenne in Los Angeles eine Schullehrerin, die sich durch systematisches Studium und eifriges An- hören dieser Programme so vervoll- kommnet hat, daß sie fast alle Fragen sofort beantworten kann. Sie hat ihre Stelle längst aufgegeben und lebt vom Verkauf ihrer Beutestücke. Das gehört wieder mehr zu jenen "unbegrenzten" Möglichkeiten, für die jenes phantastische Land mit Recht berühmt ist.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Vortrag für Baden-Baden

    Untertitel

    [Vortrag für eine Radiosendung des SWF]

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    6

    Signatur

    LM-190

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Hörfunk, Neue Musik
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