Vortrag für Radio Bremen, Oct. 31, 1958

Abstract

Zur Rundfunk-Übertragung eines Konzertes im Radio Bremen (31. Oktober 1958) sprach Ernst Krenek eine kurze Einführung zu den drei von ihm komponierten Werken. Anhand jeweils zentraler handwerklicher Details von „Elf Transparenten“, op. 142, „Kette, Kreis und Spiegel“, op. 160, und „Spiritus intelligentiae, sanctus“, op. 152 erklärte Krenek seine Entwicklung von Zwölftontechnik zu Serialismus und weiter zur Komposition mit elektronischen Klängen.

    Vortrag für Radio Bremen, Oct. 31, 1958 Krenek Bremen

    Die Werke, die auf dem heutigen Programm stehen, charakteri- sieren die Art und Weise, in welcher ich den Übergang von der Zwölftonmusik zur seriellen Musik vollzogen habe. Damit hat es Folgendes auf sich: Unter Zwölftonmusik verstehen wir jene vor über dreißig Jahren hervorgetretene musikalische Kompositionsweise, in welcher das musikalische Geschehen aus einer im Voraus festgesetzten Zwölfton- reihe abgeleitet ist. Die Elf Transparente sind ein Bei- spiel dieses Verfahrens. Die Zwölftonreihe, die für das Werk gewählt wurde, liefert das Material für alle musi- kalischen Gestalten, die im Verlauf der elf Stücke auf- treten. Es wird jedoch nicht bloß die Originalform dieser Reihe benützt, sondern auch ihre Umkehrung, rückläufige Form und alle Verschiebungen dieser Reihen auf andere Tonhöhen. Die Substanz der elf Stücke er- gibt sich aus fortgesetzten freien Kombinationen aller dieser Grundmuster, die auf vielfältige Arten miteinander ver- woben sind. Infolge der Kürze der Stücke ist thematisches Material sehr knapp gehalten und seine Verarbeitung im Sinne der Klassischen Methoden motivischer Arbeit Durchführung auf ein Minimum beschränkt.

    Das Stück "Kette, Kreis und Spiegel", das Sie in wenigen Minuten hören sollen, geht in jeder Be- ziehung etwas weiter. Die Zwölftonreihe, die auch diesem Werk zugrundeliegt, bleibt nicht dieselbe für das ganze Stück. Sie ändert sich von Schritt zu Schritt, indem die Töne der aufeinanderfolgenden Tonpaare fortlaufend ihre Plätze tauschen. Wenn also die ori- ginale Zwölftonreihe mit 12345 beginnt, so ist die Reihen- folge in der nächsten Tonreihe 13254. Darauf folgt 31524, u. s. w. Nach elf solchen Umstellungen gelangt man zur rückläufigen Form des Originals, und nach weiteren elf zurück zur Originalgestalt. Da diese Abwandlungen zu ihrem Ausgangspunkt zurückführen,

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    kann man die Anordnung als Kreis bezeichnen. Die Idee der Kette ist ausgedrückt in der Reihenfolge, in welcher diese abgeleiteten Reihen verwendet werden. Sie besteht darin, daß auf jede Reihenform stets jene folgt, die zur Fortsetzung jeder Reihenform aus allen zur Verfügung stehenden solchen Formen stets jene ausgewählt wird, deren erster Ton identisch ist mit dem letzten der vor- hergehenden Form. Waru Was endlich den Spiegel betrifft so tritt er insofern in Erscheinung, als die musikalische Gestalt der ersten Takte an jenen Stellen des Stückes, an denen Kette und Kreis zur Umkehrung, rückläufigen Form und rückläufigen Umkehrung der Originalreihe führen, ebenfalls in diesen Spiegelungen auftritt. Was dazwischen liegt, ist thematisch nicht durchge- arbeitet im Sinne der traditionellen Begriffe von Durch- führung, aber voll von lokalen Beziehungen kleinster Elemente, die sich daraus ergeben, daß jeweils zwei benachbarte Töne ihre Plätze tauschen. Die Abwesenheit thematischer Charaktere legte auch eine stärkere Hinwendung zum sogenannten punktuellen Stil nahe. Darunter ver- seht man eine Schreibweise, in welcher die musikalische Substanz gewissermaßen zerstäubt ist, das heißt, in kleinen Teilchen über das zur Verfügung stehende In- strumentarium verstreut, wobei die einzelnen Teilchen - kurze Phrasen, Tongruppen, oder selbst einzelne Töne - vielfach durch Pausen von einander getrennt sind. Augenscheinlich bewirkt wirkt diese Methode der Entstehung von Zusammenhang im traditionellen Sinn einiger- maßen entgegen

    Das elektronische Werk, das diese Sendung ab- schließt, ist kurz vor "Kette, Kreis und Spiegel" entstanden, geht aber wenigstens an einer Stelle weiter in Bezug auf serielle Determinierung. Es handelt sich hier um den ersten Teil eines größeren, bisher unvollendeten Werkes das den Titel Spiritus Sanctus, intelligentiae führt und

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    der Form nach als Oratorium bezeichnet werden kann. Den Singstimmen, die einen geistlichen Text verwenden, stehen Klänge gegenüber, die auf elektronischem Wege er- zeugt sind, d. h. ohne Zutun von Instrumenten und Spielern, sondern von Frequenzgeneratoren produziert und direkt auf Tonband aufgenommen. Das so gewonnene Klangmat- erial ist dann vielfach nach den in elektronischen Medium vorhandenen P Verfahrensweisen bearbeitet, d. h. die Klänge sind durch entsprechenden Bandschnitt, Mischung, Filterung, Hallraumbehandlung u. s. f. modifiziert und im Char- ekter gegeneinander abgesetzt. Auch die Stimmen der beiden Sänger, die auf dem gewöhnlichen Wege über das Mikraphon aufgenommen wurden, sind dann durch Übereinanderkopieren, Geschwindigkeits- und Lageverschiebung u. dgl. zu den im Werk hörbaren vokalen Klangkomplexen ent- wickelt worden.

    Der Gegenstand des Werkes ist die Verwirklichung des Heiligen Geistes in der Heilsgeschichte der Menschheit. Der erste Teil, der hier vorliegt, bezieht sich auf das Verlangen nach dem Geist, wie es sich im Alten Testament dar- stellt. Der zweite Teil soll Prophezeihungen der end- lichen Herankunft des Geistes bringen, und der dritte Teil, aus den betreffenden Stellen des Neuen Testamentes be- stehend, soll zum Pfingstwunder von Jerusalem hin- führen, das das Kommen des Geistes bedeutet. Der erste Teil endet mit der Spra Verwirrung der Sprachen beim Turmbau von Babel, der hier als ein allzu primitiver Versuch des Menschen zur Erlangung gött- licher Intelligenz gedeutet wird - ähnlich dem ihm vor- hergehenden Griff nach dem Baum der Erkenntnis. Diesen Dem ganz kurzen Bericht über den Sündenfall der Vertreibung aus dem Paradies folgt ein gesprochenes Zitat aus Kierkegaard's "Begriff der Angst", das sich auf die Erbsünde bezieht.

    Das Werk bedient sich vieler Töne, die in unserem Zwölftonsystem nicht vorhanden sind. Es verwendet viel- fach eine Teilung der Oktave in dreizehn gleiche Teile,

    Dieses ist in deutscher Sprache, während die Bibelworte lateinisch gesungen werden. Bremen 4

    enthält aber auch komplizierter abgeleitete Tonreihen, die zu anderen Frequenzen führen. Der Abschnitt, auf den ich vorhin anspielte, ist eine Art von Intermezzo ohne Singstimmen und ganz aus elektronischen Klängen zusammengesetzt. Es folgt den Worten "Ita dimisit eos Dominus Deus de paradiso voluptatis", womit die So- pranstimme die Vertreibung aus dem Paradies berichtet.

    Dieses Zwischenspiel ist kompositionstechnisch gesprochen ein vierstimmiger Doppelkanon, der jedoch verschiedene ungewöhnliche Züge aufweist. Das Grundmaterial des Kanons sind zwei Tonlinien, deren erste in der Mitte des gesamten Tonumfanges anhebt, anfängt, sich zu seiner höchsten oberen Grenze erhebt und dann zu seiner unteren absinkt um nach etwa drei Vierteln der Gesamtlänge des Stückes auf dem tiefsten Ton zu schließen. Die andere Tonlinie beginnt mit diesem tiefsten Ton gerade dann, wenn die erste ihre höchste Erhebung erreicht. Sie steigt so an, daß sie die absinkende erste im Mittelton kreuzt, geht dann ihrerseits zur oberen Grenze hinauf und kehrt zum Mittelton zurück. Beide Tonlinien bestehen aus dreizehn Umwandlungen einer dem Werk zugrunde liegenden Siebentongestalt. Die zweite Tonlinie bedient sich der Umkehrungen der Siebentongestalten der ersten Linie. Verschiedene Abschnitte dieser Tonlinien, wie etwa ihre auf- oder absteigenden Äste, sind nun so imitiert, daß die Originalbandaufnahmen dieser Abschnitte nach be- stimmten Proportionen schneller oder langsamer, und dement- sprechend höher oder tiefer, ablaufen gelassen wurden. und daß Darauf wurden diese modifizierten Abläufe mit den Originallinien so kombiniert wirken, daß ihre Anfangs- und Endpunkte nach einem vorgefaßten Plan sich der Gesamtzeichnung einfügen würden.

    Daraus ergibt sich, daß in diesem Stück zwar alle Einzelheiten durch die Planung des Ganzen zwar vollig vorherbestimmt, aber aus demselben Grund nicht vorhersehbar sind. Die Elemente, aus de-

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    nen sich dieses Gebilde zusammensetzt, also die grund legenden Siebentonfiguren, ihre Abwandlungen und deren Aneinanderreihung zu Tonlinien von erheblicher Länge, dann die auseinandergespreizten und zu- sammengezogenen Imitationen dieser Tonlinien und die Anordnung dieser Imitationen im Gesamt- plan - alle diese Elemente sind genau vorherbe- stimmt und daher sind die Klangkomplexe, die sich an jeder Stelle durch die vorherbestimmte Kombination dieser Elemente ergeben werden, völlig determiniert. Eben darum sind sie nicht vorhersehber. Diese dialektische Verknüpfung von Notwendigkeit und Zufall hat mich seither weiterhin beschäftigt, und eine Reihe neuerer Werke ist das Ergebnis dieser Bestrebungen.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Vortrag für Radio Bremen, Oct. 31, 1958

    Untertitel

    [Vortrag für eine Radiosendung des Senders Radio Bremen]

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    5

    Signatur

    LM-191

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Hörfunk, Zwölftontechnik, Serielle Musik, Elektronische Musik
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