Schönberg lebt

Abstract

Ernst Krenek beschrieb in diesem kurzen Vortrag für den Südwestfunk in Baden-Baden Arnold Schönberg und dessen Zwölftontechnik als Wendepunkt in der musikgeschichtlichen Entwicklung und als wichtige Zwischenstufe in der Weiterentwicklung zum Serialismus. Aus Schönbergs Oeuvre hebt Krenek exemplarisch zwei Werke hervor: das dritte Stück der „Drei Klavierstücke, op. 11“ und die Kantate „Der Überlebende aus Warschau“.

    Schönberg für SWF

    Schönberg lebt, und wird in der Geschichte der Musik für immer fortleben als Begründer der atonalen Tonsprache. Er war der erste, der in den beziehungslos gewordenen Elementen der sich auflösen- den Tonalität das Material für ein neues, von tonalen Beziehun- gen freies Idiom wahrnahm und in diesem Idiom Kompositionen schuf, deren Überzeugungskraft auf anderen Faktoren beruhte als auf den grammatikalischen Prinzipien der Funktionalharmonie. Es wird voraussichtlich unmöglich bleiben, hinter diesen histo- rischen Umbruch zurückzugehen und so zu tun, als ob nichts ge- schehen wäre, wenn anders man in der Wahl der eigenen Position sich einer geschichtlichen Perspektive bewußt bleiben will. Ich kann das aus persönlicher Erfahrung sagen, da ich in meiner rückgewandten Periode, deren bekannteste Produkte Jonny spielt auf und das Reisebuch aus den österreichischen Alpen sind, eben das ver- sucht habe - nämlich das unversehrte Wesen der Tonalität durch etwas, das ich als "Urerlebnis" eher mystisch umschrieb als klar definierte, wiederherzustellen. Das Ergebnis war, daß ich mich alsbald der Zwölftontechnik zuwandte, die Schönberg inzwischen als Organisationsprinzip der Atonalität entwickelt hatte.

    Unter dem Gesichtswinkel der Gegenwart sind die in der Zwölftontechnik enthaltenen regressiven Momente mehr und mehr ins Licht getreten. Es ist schon früher aufgefallen, daß viele der größeren Kompositionen, in denen Schönberg diese Technik angewendet hat, sich in ihrer Formgebung an den klassischen Modellen von Sonate und Rondo orientieren. Ob er in der Eignung der Zwölftontechnik für solche Zwecke eine Art von Rechtfertigung ihrer Existenz erblickte, oder ob seine Phantasie auf die Erfindung total neuer Formen einfach nicht abzielte, läßt sich kaum entscheiden. Man kann auch die Erhebung des Reihenprinzips zur totalitären Vorordnung der Tonhöhen-Abfolge als Aus-

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    druck der disziplinarischen und autoritären Züge in Schönbergs Persönlichkeit deuten und darin eine Reaktion gegen den emanzipatorischen Charakter des kühnen Streichs, der die Tonalität beseitigte, sehen. In der Tat hat Schönberg selbst diesen Schritt nicht als Bruch des Gesetzes, sondern als dessen radikal-konsequente Erfüllung erklärt.

    Es wäre jedoch unangebracht, Schönberg posthum vorzuwerfen, daß er ihm nicht gelang, über diesen seinen Schatten zu springen. Wenn es der jungen Generation zur Zeit von Schönbergs Tod unbegreiflich erschien, daß er sich beim traditionsbeschwerten Ausbau der Zwölfton- technik aufhielt, statt sofort in hellsichtiger Konsequenz zum totalen Serialismus vorzustoßen, der damals zu keimen begann, so sollten diese heute schon zur mittleren Generation gewordenen Fortschrittler bedenken, daß ihnen eine jetzige "Avantgarde" sehr wohl vorhalten könnte, sie hätten sich nicht die vergleichsweise noch drücken- dere Zwangsjacke des Serralismus anlegen, sondern gleich zu den weiter draußen winkenden Gefilden tota- ler Freiheit voraneilen sollen. Es wäre etwas naiv, das jeweils Letzterreichte in so strahlendem Licht zu er- blicken, daß die ihm vorangegangene Phase als be- klagenswerter Umweg erscheint. Warum sollte der Fort- schritt so rapid vor sich gehen, daß alle auf seinem Wege liegenden Stilperioden nur als des Überspringens werte Zwischenstufen erscheinen? Nur damit wir schneller beim Jüngsten Tag ankommen?

    Man mag zugeben, daß Schönbergs Handhabung der Zwölftontechnik retardierende Momente aufweist, die die Tendenz zur Ausdehnung des Reihenprinzips auf alle Parameter verzögert haben und daß sein Beispiel manchem Komponisten der damals mittleren Generation den Ausblick auf diese Möglichkeit verdeckt haben mag. Trotzdem sind in dieser vorseriellen Periode manche vitale und gültige Werke entstanden, die man einem stilistischen

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    Purismus oder einem ungestümen Fortschrittswillen nicht gerne geopfert sehen möchte. Schließlich kommt es bei einem als vital und aussagekräftig sich ausweisenden Werk nicht darauf an, ob gelegentliche Oktaven und andere kon- sonante Bildungen auf eine fragwürdige Interpretation des Reihenprinzips zurückzuführen oder einer postseriellen, von solchen Hemmungen entlasteten Gestaltungsfreiheit zu verdanken sind.

    Es ist schwer, aus Schönbergs nicht allzu umfangreichem Oeuvre ein einzelnes Werk als das dem Betrachter subjektiv am bedeutendsten erscheinendes auszuwählen, weil die Be- deutsamkeit, die vielleicht das hervorstechendste Merkmal seines gesamten Schaffens ist, fast in jedem einzelnen Werk in Erscheinung tritt. In manchen Fällen überwiegt die Be- deutsamkeit sogar den ästhetischen Reiz.

    Ich will zwei Stücke hervorheben, in denen diese beiden Faktoren in hohem Grade koexistieren: das dritte der Drei Klavierstücke, opus 11, und die Kantate Der Überlebende von Warschau. Das Klavierstück, das den Einbruch der Atona- lität mit gewalttätigen Akzenten signalisiert, ist völlig frei von Spuren überkommener Formgebung, die in den ersten beiden Stücken dieser Gruppe noch erkennbar sind: Es ist ein erster Vorstoß in Richtung auf das, was Adorno als musique informelle vorgeschwebt haben mag.

    Der Überlebende von Warschau, ein spätes Zwölftonwerk, ist ebenfalls frei von jenen Anlehnungen an klassische Modelle, die in anderen von Schönbergs dodekaphonischen Arbeiten gerügt wurden. Die kurze Kantate hat auch eine direkte Durchschlagskraft der Aussage, die den für das Theater bestimmten Arbeiten Schönbergs vielfach abgeht. Ich hebe diese beiden Stücke hervor, weil sie das Fortleben des Komponisten Schönberg nicht nur durch ihre historische Bedeutsamkeit, sondern auch als unmittelbar packende musikalische Phänomene manifestieren.

    Ernst Krenek

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Schönberg lebt

    Untertitel

    [Vortrag für eine Radiosendung des SWF]

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    3

    Signatur

    LM-170-02

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport
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