[Vortrag für eine Radiosendung des SWF über Franz Schuberts Streichquintett in C-Dur, op. post. 163, D 956]

Abstract

In seinem Vortrag für eine Radiosendung des SWF im August 1973 bespricht Ernst Krenek Schuberts Streichquintett C-Dur op. post. 163, D 956. Nach einer Verortung des Werks und dessen früher Rezeption im historischen Kontext analysiert er mit dichter Bezugnahme auf Hörbeispielen kompositorische Eigenheiten des berühmten Kammermusikwerks.

    Als Schubert sein großes C-Dur Streichquintett schrieb, wählte er die un- gewöhliche Kombination von zwei Geigen, Bratsche und zwei Celli, anstatt der für solche Stücke seit Mozart and Beethoven gebräuchlich gewor- denen von zwei Geigen, zwei Bratschen und einem Cello. Die eine oder die andere Besetzung normal zu nennen, wäre natürlich ganz will- kürlich. Selbst ein Stück für fünf Geigen oder fünf Celli könnte immer noch mit Recht ein Streichquintett genannt werden.

    Warum Schubert jedoch von der traditionell gewordenen Besetzung abwich, ist schwer zu sagen. Er verwendet die beiden Celli in dem nur diesem Instrument zugänglichen tiefsten Bereich - d.h. die Oktave, die unter dem tiefsten Ton der Bratsche liegt - im Zusammenspiel nur an einigen wenigen Stellen, wo es ihm auf eine sehr dunkle, dichte Textur in der Baßregion ankommt, ein Effekt, der jedoch auf längere Dauer sehr ermüdend wirken würde. Tatsächlich bewegt sich also das erste Cello vorwiegend in einer Lage, wo eine zweite Bratsche dieselben Dienste leisten könnte. Allerdings hat das größere In- strument mehr Resonanz und Durchschlagskraft und es war daher für den Vortrag der breiten und mit hoher Ausdrucksintensität ge- ladenen Kantilenen, die Schubert für die mittlere Region seines Ensembles vorschwebten, besser geeignet. Vergleichsweise könnte man sagen, daß man in einem Chorsatz etwa expressive melodische Linien in dieser Lage lieber einem hohen Tenor anvertrauen würde als einer Altstimme, die sie zwar mit geringerer Anstrengung ausführen könnte, dabei aber auch nur weniger Intensität ent- falten würde.

    Vorübergehend könnte man auch vermuten, daß Schubert an einen ambitiösen Amateur gedacht haben mochte, der sich gern in die kammermusikalische Aktivität eines Quartetts eingeschaltet hätte. Es hat solche Fälle gegeben, wo ein Komponist einem sym- pathischen oder zahlungskräftigen Amateur zuliebe in ein sonst an- spruchsvolles Werk eine unbedeutende, leichte Stimme einschmuggelte. Das scheint hier aber nicht der Fall zu zu sein. Die zweite Cellostimme ist zwar gewiß leichter als die erste, weil sie fast ausschließlich in den tiefen Regionen bleibt, aber ihre rhythmische Belebt- heit und ihre Intonationsprobleme verlangen einen den anderen Spielern ebenbürtigen berufsmäßigen Interpreten.

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    Wenn Schubert an ein bestimmtes Ensemble gedacht haben sollte, so hat ihm dieses jedenfalls nicht den Gefallen getan, das Stück zu spielen. Das wäre zu Lebzeiten des Autors vielleicht nicht möglich gewesen, da Schubert das Werk nur wenige Wochen vor seinem Tod vollendete. Aber auch nach dem Ableben des Komponisten kümmerte man sich um dieses Quintett ebensowenig wie um eine große Menge anderer unaufgeführter Arbeiten Schuberts. Das Streichquintett erlebte seine Uraufführung erst 22 Jahre später, am 17. November 1850 durch das Hellmesberger Ensemble im Wiener Musikverein. Drei Jahre später erschien es gedruckt bei Diabelli in Wien. Wahrscheinlich unter dem Einfluß von Hellmesberger wurden damals auch eine Reihe anderer Werke der Vergessenheit entrissen, was zur Begründung von Schuberts unzerstörbarer Popularität bei der Nachwelt beitrag.

    Dabei kann man die Gleichgültigkeit seiner Mitwelt nicht etwa dem Umstand zuschreiben, daß er ein verkanntes Genie war, dessen Musik seine Zeitgenossen nicht verstanden. Er war in Wien sehr bekannt und sehr beliebt, und was man von seiner Musik hörte, wurde höchst beifällig aufgenommen. Freilich nahm man es nicht sehr genau. Es kam vor, daß man einen Satz aus einem Kammer- musikwerk spielte und nachher sich nicht mehr erinnerte, ob es ein Quartett oder ein Trio gewesen war. Es mag sein, daß die ausführenden Kräfte einfach nicht nachkamen, weil Schubert so viel und so schnell komponierte, daß ein neues Werk schon da war, bevor man das vorhergehende studiert hatte.

    Vielleicht war seine Kammermusik auch technisch zu schwierig, um von Musikern unter der Spitzenklasse bewältigt zu werden. Aus Be- richten entnimmt man, daß damals Streichquartette als Solostücke für Geige mit Begleitung von drei anderen Streichinstrumenten be- trachtet wurden. Sie wurden vielfach von reisenden Virtuosen aufgeführt, die dann in der jeweiligen Stadt die Mitspieler aus den lokalen Kräften rekrutierten. Noch Berlioz soll beklagt haben, daß er von Beethovens späten Quartetten nichts verstehen könne - kein Wunder, da er sich nur die erste Geigenstimme ansah. Diese Einstellung ist geradezu grotesk, da vom späten Haydn über Mozart und Beethoven eine gewaltige Quartettliteratur vorlag, die sie offensichtlich widerlegte. Es ist aber nicht von un- gefähr, daß der Verlag Schott, als Schubert ihm 1828 eine Anzahl von neuen Werken anbot, aus der langen Liste eine Reihe weniger bedeutender Stücke herausfischte, aber die beiden großen Quartette "Der Tod und das Mädchen" und G-dur opus 161 zurückwies. Die Gattung Streichquartett hatte sich trotz den vorliegenden Meister- werken im öffentlichen Bewußtsein noch nicht durchgesetzt.

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    Der erste Satz des Streichquintetts beginnt mit einer Präsentation des Hauptthemas, die sich jedoch zunächst so ausnimmt, als ob sie eine langsame Einleitung wäre. 1 I 1 - 10

    Das Tempo ist mit Allegro ma non troppo angegeben, und in diesem Tempo füllt der erste Akkord, der C-dur Dreiklang, zwei ganze Takte. Da aber Notenwerte, die kleiner sind als Halbe, fast gar nicht arti- kuliert werden, kann man sich die Phrase beim Anhören als ein sehr ruhiges Andante vorstellen, also halb so schnell als sie notiert ist. In diesem Fall würde der erste Akkord nur einen Viervierteltakt füllen. Hören wir diese Phrase darauf hin nochmals. 2 wiederhole 1

    Die kleine Verzierung in der Melodielinie über dem zweiten Akkord, technisch als Doppelschlag oder Mordent bekannt, wird uns in dem Quintett einigemal wieder begegnen. Es ist eine melodische Formel, die in dem Vokabular der zeitgenössischen frühromantischen Oper beheimatet ist. Wir kennen sie gut von Weber und vor allem Wagner. Vieles in dem Duktus des Streichquintetts erinnert an die hochge- spannte dramatische Atmosphäre der Opernbühne. Aus Schuberts Biographie ist bekannt, daß er zeitlebens von einer unglücklichen Liebe zur Oper erfüllt war und sich kaum etwas sehnlicher wünschte, als in diesem Sektor Anerkennung zu finden, wie seine zahl- reichen, leider unergiebigen Versuche in dieser Richtung zeigen. Vielleicht trieb es ihn, in dem Quintett seinen Opern- instinkt nochmals auszuleben.

    Die Eingangsphrase wird sogleich in d moll wiederholt, und schon hier hat das erste Cello die führende Stimme. 3 11 - 20

    Die Phrase führt zwar zurück nach C dur, aber diese Tonart wird nicht befestigt, sondern durch chromatische Schritte fraglich gemacht, was wiederum dem traditionellen Charakter der oft harmonisch unstabilen Einleitungen symphonischer Sätze ent- spricht. Ein Haltepunkt wird erreicht auf der Dominante von e moll. Dieses H jedoch erinnert sich, daß es der Leitton der Haupttonart C dur ist, und wird alsbald als solcher gedeutet. Gleichzeitig setzt mit den klopfenden Achteln der Bratsche gesteigerte Bewegung ein, die beim Eintreffen auf C dur den Allegro-Charakter des Satzes definitiv enthüllt und befestigt. 5 2b (Auft.) - 33 (1. V.)

    4 20 - 25 4

    Das Hauptthema wird von den zwei Cellos kräftig wiederholt, während die anderen Instrumente die Allegro-Bewegung in Gang halten. 6 33 - 40 (1. V.)

    Auch die d moll-Version des Themas erscheint wieder und wird in einer chromatisch aufsteigenden Überleitung ausgesponnen, die alsbald zu einer Halbkadenz auf der Dominante führt. Wir sind bereit für das zweite Thema. 7 49 - 58 (1. V.)

    Schuberts kreative Phantasie tendiert stets dazu, seine musika- lischen Gedanken als in sich geschlossene, liedhafte Gebilde aus- zukristallisieren. Während seine Durchführungsabschnitte oft voll von geistreichen Wendungen sind, bildet sich auch dort oft eine Art drittes Thema heraus, wie eine Insel aus dem unruhigen Strom herausragend. In Exposition und Reprise unterstreicht er den episodischen Charakter seiner Erfindungen oft dadurch, daß er auf eine ausführliche Übergangspassage verzichtet und das zweite Thema unvermittelt einsetzen läßt. So auch in unserem Quintett. Aber freilich darf man jetzt nicht etwa ein schlichtes Liedsätzchen in G dur erwarten. Das zweite Thema ist in der Tat eine jener höchst komplizierten Periodenkonstruktionen, in denen Schubert von niemandem übertroffen wurde. Zunächst die Über- leitung, d. h. die ganzen zwei Takte, die sie repräsentieren. 8 58 - 60 (1. V.)

    Nun das zweite Thema, das zunächst die beiden Celli vortragen. Es beginnt in Es dur, statt dem erwarteten G dur, mit einer un- regelmäßigen Periode von zwei plus vier Takten - die Dehnung des zweiten Gliedes der Periode in ihren letzten zwei Takten ist deutlich hörbar. 9 60 - 65

    Der anschließende Nachsatz beginnt mit denselben zwei Takten wie der Vordersatz. Jetzt aber wird ein totaler Stillstand von drei Takten eingeschoben, worauf die beiden Anfangstakte in C dur wiederholt werden. Ein weiterer Stillstand von vier Takten deutet das C dur als Unterdominante von G, und in dieser lang zurückgehaltenen Tonart schließt das Thema mit drei Takten, die seinen Anfang in Erinnerung rufen. 10 66 - 79 (1. V.)

    Wir hören diese raffinierte Konstruktion von gestörten und wiederhergestellten Gleichgewichten sogleich noch einmal, wobei jetzt die beiden Geigen die graziös hinschwin- gende Melodie vortragen. 11 81 - 100 (1. Ton)

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    Eine Reihe von abschließenden Phrasen befestigt nur die Dominant- Tonart. Ob man sie als Anhang zum zweiten Thema oder als Teile einer selbständigen Schlußgruppe der Exposition betrachtet, ist vor allem Geschmacksache. Die letzte dieser Phrasen hebt sich jedenfalls deutlich ab, da hier die fünf Instrumente lagenmäßig dicht zu- sammengedrängt und rhythmisch im staccato Gleichschritt auftreten. 12 137 (2. V.) - 141 (1. V.)

    Die Exposition verklingt mit einer Reminiszenz an das zweite Thema. 13 145 - 152

    Ohne modulatorische Formalitäten versetzt uns die Durchführung unvermittelt nach A dur und befaßt sich zunächst mit den die Exposition abschließenden Elementen. 14 154 - 166 (1. V.)

    Dieses letztes Element - die dichtgedrängte staccato Phrase - wird ihres staccato Charakters entkleidet und über ihrer nun sanft hin- fließenden Wellenbewegung entwickelt die erste Geige ein für die Schubertschen Durchführungsteile so charakteristisches neues Thema, das mit dem Material der Exposition nichts zu tun hat. Es ist eine weit ausgesponnene Melodielinie, deren 20 Takte hohe expressive Intensität aufweisen. Auch die opernhaften Mordente fehlen nicht. 15 180 - 202 (1. V.)

    Dieser ganze Abschnitt wird auf anderer tonartlicher Ebene wieder- holt. Dann wird jener an sich unscheinbaren Phrase, die dem ganzen ausgedehnten Vorgang zugrunde liegt, ihr aggressiver staccato Cha- rakter zurückgegeben und durch ihre chromatischen Verschiebungen drängt sie in sich verkürzenden Imitationen das Geschehen in den Dominant-Akkord von C dur, so die Reprise vorbereitend. Diese setzt fast unmerklich ein, da das staccato Element, zu leichten pianissimo Tupfen reduziert, unablässig weitergeht, während die gehaltenen Akkorde, mit denen das erste Thema anhebt, schon vier Takte früher am Ende der Durchführung vorweggenommen werden. 16 248 - 275

    Die Reprise nimmt von hier ab den in den frühklassischen Modellen vorgesehenen Verlauf. Alle in der Exposition vorge- stellten Themen und Phrasengruppen werden in derselben Reihen- folge unverändert wiederholt, jedoch so daß nunmehr alle in der Haupttonart C dur stehen. Schubert verzichtet hier wie auch sonst zumeist auf die Einführung zusätzlicher Durch- führungscharaktere, womit schon Mozart zuweilen, und Beethoven fast regelmaßig ihre Reprisen zu bereichern pflegten.

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    Der zweite Satz, Adagio, ist formal eine der erstaunlichsten und großartigsten Konstruktionen Schuberts und eine kompositorische Vision von außerordentlicher Ausdruckskraft. Schon die Textur des Hauptteils, der im Sinne des herkömmlichen Modells der dreiteiligen Lied- form nach dem Mittelteil in einer bereicherten Variation wiederholt wird, ist sehr ungewöhnlich. Die thematische Substanz ist durchwegs auf das mittlere Register eng begrenzt und den drei Mittelstimmen des Quintetts anvertraut, wobei die zweite Geige die Führung inne hat. Während das zweite Cello die Fundamentaltöne des harmonischen Verlaufs ausschließlich mit leichtem pizzicato anspielt, ergeht sich die erste Geige in einer zarten Oberstimme, die stellenweise an die Vogel- rufe der Pastoral-Symphonie erinnert. Um das zu illustrieren, führen wir zunächst die ersten vier Takte vor: 17 II. 1 - 4

    Schon im vierten Takt deutet das harmonische Geschehen auf etwas Un- gewöhnliches. Statt auf eine Rückkehr zur Tonika von E dur oder auf eine Halbkadenz auf dessen Dominante vorzubereiten, was der traditions- bewährte Vorgang wäre, wird der durch die Alteration des E zu Eis ver- fremdete cis moll Dreiklang der sechsten Stufe von E als Dominant- Akkord beim Wort genommen, und für die nächsten sieben Takte ist das ganze musikalische Geschehen auf das Niveau von Fis dur ge- hoben, als ob es das am Anfang etablierte E dur nie gegeben hätte. Erst im achten Takt wird zur Subdominante von E zurückmoduliert und nach drei Takten ist eine Schlußkadenz erreicht. Hier die Fis dur Episode 18 5 - 12

    und die Abschlußtakte 19 13 - 15 (1. V.)

    Die ganze Passage ist zu verstehen als eine siebentaktige Periode mit einem sowohl wegen seiner Länge als auch harmonischen Ge- staltung ungewöhlichen Einschub von acht Takten. Die erstaunliche Übung wird wiederholt, wobei die Vogelstimmen von pizzicatos und anderen Fioritüren abgelöst werden, jedoch in verkürzter Form. Statt eines so ausführlichen Einschubs gibt es nur eine Dehnung, durch die die siebentaktige Periode auf zehn Takte erweitert wird. 20 15 - 18

    Dehnung 21 19 - 21

    Abschlustakte 22 22 - 24 (1. V.)

    Fünf weitere Takte führen zu einer Beruhigung, die so vollständig wirkt, als ob das Stück zu Ende und nichts weiter zu erwarten wäre. 23 24 - 28 (halber T.)

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    Umso überraschender ist der Eintritt des Mittelteils, der Der Mittelteil diesen Satzes ist ein nicht weniger erstaunliches Musikstück ohne seinesgleichen ist. Er bricht unvermittelt herein wie ein Sturmwind und verschlägt uns ohne modulatorische Überleitung nach f moll, eine Tonart, die in der traditionellen Hierarchie des Quintenzirkels dem E dur des ersten Teiles fast diametral, also völlig fremd gegenüber liegt. Ein drohender crescendo Triller auf E, das als Leitton von F aufgefaßt wird, genügt, die heftige tonartliche Verwerfung zu bewerkstelligen. Das zweite Cello schafft mit aufgeregt wirbelnden Triolen einen zitternden Untergrund, zweite Geige und Bratsche liefern in hastigen Synkopen den harmonischen Füllstoff, während erste Geige und erstes Cello in pathetischem Oktavklang eine auf zehn lange Takte ausgedehnte Melodie von dramatischem Zuschnitt vortragen. Schon die apoggiaturas im ersten und zweiten Takt dieser Molodie sind typisch opernhaft. Es ist leicht, sich dazu einen Text wie "Ah crudele" oder etwas Ahnliches vorzustellen. 24 29 - 39 (bis 10. Achtel)

    Diese lange Phrase endet wohl in f moll, aber eigentümlicherweise wird das kaum als Rückkehr zur Haupttonart empfunden, und zwar dadurch, daß die c moll Tonalität, nach drei Takten großer chromatischer Anstrengung auf den Höhepunkt der langen Phrase placiert wurde und so eine beherrschende Posi- tion erlangte. Hören wir nochmals diesen Teil der Passage: 25 35 - 39 (wie oben)

    Das f moll wird weiterhin in eine von c moll abhängige Stellung verwiesen, indem es nunmehr mit der sogenannten neapolitanischen Sext von c moll identifiziert wird. Obwohl das benützt wird, um nochmals in die F- moll Endung der ersten Phrase zu münden, hat diese jetzt noch weniger Überzeugungskraft als vorher. 26 40 - 43

    Auch dieser Ansatz wird wiederholt, führt, jedoch nach zwei Takten durch fast atemlos wirkende Synkopa- tionen der führenden Instrumente noch weiter weg von dem tonalen Zentrum dieses Mittelteils. 27 44 - 47

    Die intensivierte und um zwei Takte verlängerte Wieder- holung dieser Episode geht noch weiter 28 48 - 53

    sinkt jedoch alsbald zurück in das usurpierte c moll, so daß alle Versuche, nach dem anfänglichen f moll zurück-

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    zukehren, als frustriert aufgegeben werden. 29 54 - 58 (1. V)

    Ein paar, im dreifachen pianissimo geflüsterte chromatische Rückungen bringen uns zurück zum E dur des Hauptteils, der nunmehr zur Gänze rekapituliert wird, mit dem Unterschied, daß jetzt das zweite Cello den Pastoralcharakter durch sein murmelndes Bächlein wachruft, während die erste Geige mehr zusammen- hängende Koloraturen beisteuert. 30 64 - 68 (2. A.)

    Diese Koloraturen werden später von dem schon anfangs gehörten Wachtelschlag abgelöst. 31 78 - 82 (1. A.)

    Knapp vor Schluß noch eine Überraschung: der bedrohliche Triller auf e beringt nochmals jenen f moll Dreiklang, als ob ein neuer dramatischer Sturm zu erwarten wäre. Er sinkt aber sogleich in seinen Dominant Septakkord zurück, der glücklicherweise identisch ist mit dem übermäßigen Quintsextakkord der vierten Stufe von E dur, in welches er sich wohlgefällig und definitiv auflöst. 32 91 - 94

    In diesem außerordentlichen Satz erweist sich Schubert besonders deutlich als sozusagen fortschrittlicher Kom- porist, wenn wir diesen Ausdruck mit aller gebotenen Vorsicht anwenden wollen. Die Idee, einen so kontrastierenden Mittelteil unvermittelt in einer so entfernten Tonart aufzubauen, ist schon an sich unorthodox genug, aber noch kühner ist das Versickern dieses Teils in scheinbar zielloser Chromatik. In diesen chroma- tischen Passagen spielt der verminderte Septimenakkord die wichtigste Rolle als Abkürzungsweg zur Beschleunigung des Verkehrs zwischen entlegenen Tonarten. Demselben Zweck dient die ausgiebige Benützung der Enharmonik, d. h. des Umstandes, daß im temperierten Zwölftonsystem die Halbtonerhöhung eines Ton als identisch aufgefaßt wird mit der Halbtonerniedrigung seines nächsthöheren Tons, also z. B. fis betrachtet als Erhöhung von f ist dasselbe wie ges als Erniedrigung von g. Diese technischen Mittel weisen insofern historisch voraus, als sie von der nächsten Generation und vor allem deren bedeutend- stem Vertreter, Richard Wagner, zu überwältigender Geltung gebracht wurden.

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    Der dritte Satz des Quintetts ist ein besonders lebendiges Scherzo, dessen Tempo als Presto, also sehr schnell bezeichnet ist. Sein Perioden- bau bietet keine Überraschungen. Die musikalischen Gedanken sind in viertaktigen Phrasen artikuliert und diese sind in größeren Gebilden von Vielfachen von vier zusammengefaßt. Bemerkenswert ist die Ent- wicklung einer Kontinuität, die es erlaubt, den an sich kurzatmigen Anfangsgedanken 33 III 1 - 4 (1. V.) so in Gang zu halten, daß der erste Teil des Scherzos 56, und das ganze Stück nicht weniger als 300 Takte füllt.

    Wie wir schon beobachtet haben, liebt Schubert in diesem Quintett an entscheidenden Punkten in einer Tonart innezuhalten, die von der Haupttonart um einen Halbtonschritt verschieden ist - also gewißermaßen geographisch ganz nahe, aber nach den Regeln der Quintenzirkel Verwandtschaft weit entfernt. Das ereignet sich auch in dem Scherzo, das wir betrachten, wenn die Durch- führung in H dur landet. 34 91 - 103

    Auch hier wird das h als Leitton von C dur gedeutet, der H dur Dreiklang nach bewährtem Muster in einen verminderten der siebenten Stufe von C umfunktioniert und die Rückführung ist schnell be- werkstelligt. 35 103 - 134

    Weit drastischer ist die Halbtonverschiebung beim Einsatz des Trios. Bisher war das Trio fast immer eine ruhigere, gemilderte und mehr lyrische, aber nicht wesentlich kontrastierende Version des Scherzo-Materials gewesen. In unserem Quintett aber hebt nach einer erwartungsvollen Pause ein fast trauermarschartiges Unisono an, in jenem düsteren, im zweiten Satz bewußt gewordenen f moll. Erst im fünften Takt deklariert es sich als Des dur - einen Halbton über C dur. Wiederum hören wir die opernhaften Mordente. 36 Trio 1 - 12

    Eine Variation der absteigenden Phrase führt in chromatischer Sequenz zurück nach C dur und bereitet die Reprise des Scherzos vor. 37 43 - 51

    Der letzte Satz, bezeichnet mit Allegretto, ist ein leicht be- schwingtes, heiteres Stück, das mit einem nicht sehr aufregenden, aber hübschen Trick anfängt, der damals ab und zu an dieser Stelle angewendet wurde. Der düster bewegte Anfang mit den scharfen Synkopen in der Begleitung täuscht vor, daß man

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    einer erregungsvoll dramatischen Atmosphäre entgegenzusehen hätte. Nach zwölf Takten springen wir nach es moll, aber die nun schon wohlbekannte chromatische und enharmonische Manipulation bringt das unvermeidliche C dur zu fröhlichem Durchbruch. 38 IV 1 - 26 (1. V.)

    Dieses erste Thema ist vor allem charakterisiert durch die energisch zuckende Bewegung, die wir eben gehört haben. Es kommt zu einem Total-Abschluß auf der Tonika von C dur, und ohne jede Überleitung setzt das freundlich-lyrische zweite Thema ein. 39 42 - 57

    Es wird nach einem längeren Zögern auf der Dominante von G dur wiederholt, wobei die tänzerischen Pirouetten, die die erste Geige darüber ausstreut, immer brillianter werden. Sein Ab- gesang, in dem auch wieder die Mordente auftauchen, mündet in ein eigentümlich schleichendes Gebilde, dessen sich die oberen drei Instrumente für einige Zeit bemächtigen. Es entsteht eine Art Klangfläche, die auf manche, erst von der Phantasie späterer Stilepochen entwickelte Phänomene hinweist. Während dieses Klangfeld zunächst in den beiden Celli von einem neuen ruhigen Gedanken, der etwas an das Durchführungsthema des ersten Satzes erinnert, unterbaut wird, dehnt es sich alsbald auch auf die Unterstimmen aus und wogt in allen Instrumenten auf und nieder. 40 111 - 153 (1. V.)

    Aus dem Wogen erhebt sich eine treibende chromatische Linie, die die Reprise des ersten Themas bringt. Diese ist gefolgt von einer Durchführung, die sich logischerweise mit jenen düster bewegten Einleitungselementen befaßt. 41 214 - 225 (1. V.)

    Dasselbe Prinzip kontrapunktischer Engführung wird nun auf eine zackig rhythmisierte Variante dieses Gedankens angewendet. 42 233 (Auft.) - 244 (1. V.)

    Jetzt wird das zweite Thema, durch eine ruhig ausführliche Überleitung entschädigt, die wie elegante Verbeugungen klingt. 43 253 - 271

    Danach nimmt alles seinen Gang wie erwartet. Auch die großen, schleichenden Klangflächen kommen wieder und die lange chromatische Linie, die sie hervorbringen, führt zur letzten, beschleunigten Reprise des ersten Themas. Diesmal bedarf es noch weiterer chromatischer Exkurse, bevor das befreiende, strahlende C dur erreicht ist. 44 354 - 395 (1. Halbe)

    das das erste Mal so unzere- moniös herein- gestoßen worden war, 11

    Eine noch schnellere Coda schließt sich an und bringt den Satz mit den zuckenden Achteln zu optimistischem Ende.

    Ob das, was wir auf Grund konventioneller Assoziationen als musikalischen Optimismus anzusehen pflegen, in irgendwelcher Weise den subjektiven Gemütszustand des Autors reflektiert, läßt sich in keiner Weise entscheiden. Als Schubert im September 1828 das Quintett beendete, war sein Tod nur noch wenige Wochen entfernt. Das hinderte ihn nicht, in demselben Monat noch seine drei letzten nicht nur großen, sondern auch umfangreichen Klavier- sonaten zu schreiben. Und selbst danach fand er noch Zeit für einige geistliche Chorwerke mit Chor und Orchester bevor das Lied "Der Hirte auf dem Felsen" seine unwider- ruflich letzte Komposition werden sollte. Es bleibt für immer unbegreiflich, wie ein Mensch auch nur die hier registrierte reine Schreibarbeit in so kurzer Zeit verrichten konnte, ganz abgesehen von der Denkarbeit, die diese Werke erforderten, wenn wir selbst annehmen, daß die sogenannten Einfälle einfach von selbst kamen. Zugegeben, daß Schubert den Vorteil genoß, in einem von großen Vorfahren und Zeitgenossen vorgeordneten Territorium arbeiten zu können, so daß stilistische und strukturelle Probleme der Tonsprache und der Großform ihn nicht aufhielten. Aber die Fülle der Ideen, mit denen er die Gegebenheiten des Zeit- stils immer wieder aufs neue variierte und bereicherte, und die Geschwindigkeit, mit der er diese Ideen formulierte, bleiben für immer ein Gegenstand bewundernden Erstaunens.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    [Vortrag für eine Radiosendung des SWF über Franz Schuberts Streichquintett in C-Dur, op. post. 163, D 956]

    Vortragsdatum

    1973-08

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    11

    Signatur

    LM-003-01

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Musikalische Analyse, Instrumentale Kammermusik
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