Nothing Sacred

Abstract

Diese Rezension der beiden Hollywood-Filme „Nothing Sacred“ (1937) und „Manhattan-Melodrama“ (1934) schrieb Ernst Krenek im Jänner 1938 offenbar als Beitrag für die Wiener Zeitung, wo bereits zuvor Essays von Krenek zur amerikanischen Mentalität und zum amerikanischen Film erschienen sind. Krenek befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf einer Konzertreise in den USA, sah beide Filme am 15. bzw. 16. Jänner 1938 in San Francisco. Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich zwei Monate später dürfte das Erscheinen von Kreneks Beitrag verhindert haben.

Kreneks Rezension beider Filme beschreiben die Handlung, charakterisieren die zentralen Figuren und nehmen vor allem auch immer wieder Bezug auf die amerikanischen Mentalität, insbesondere auch auf die amerikanische Film-Industrie, deren kapitalistische Ausrichtung letztlich auch nach der Devise „nothing sacred“ ausgerichtet sei. Immerhin hebt Krenek beide Filme als positive Beispiele des amerikanischen Films hervor.

    Ernst Krenek (Seatte) "Nothing Sacred" antigua!! essay MS

    (Zum amerikanischen Film, II, zur amerikanischen Mentalität, IV.)

    Der Film, der diesen Titel trägt - "Nichts ist heilig" -, ist fast ein vollkommen guter Film. Es handelt sich darum, daß ein Reporter (wieder einmal), auf seiner verzweifelten Suche nach Sensationen total verunglückt, herausfindet, daß in einem Provinznest in Vermont ein Mädchen lebt, das an einer chronischen Radium- vergiftung leidet und einem sicheren, wenn auch langsamen Tod entgegengeht. Es Dem Reporter wird ihm vom Herausgeber der Zeitung als letzte Chance gewährt, diese Attraktion nach New York zu bringen und für die Zeitung auszuschlachten, bevor sie von selbst draufgeht. Nach manchen Schwierigkeiten gelingt es dem Mann die Rarität ausfindig zu machen und mit dem Landarzt, der sie behandelt, nach New York zu schaffen. Sie wird großartig einge- kleidet und von einer Festivität zur anderen geschleppt, und das Volk reißt sich die Zeitung, welche über das alles fortlaufend berichtet, aus den Händen,. welche Es gibt hier einige Szenen, die wirklich ihresgleichen suchen. In einem ungeheuren Sport- palast finden Ringkämpfe statt. Ein riesiger Mensch mit gewalti- gem Bartwuchs mißhandelt seinen Gegner in regelwidriger Weise, indem er ihm an die Gurgel springt, der Schiedsrichter ver- mag sich nicht anders Geltung zu verschaffen, als indem er dem baumlangen Kerl auf die Schultern springt und von oben in den Kampf einzugreifen sucht. In diesem aufregenden Mo- ment tritt der Manager des Unternehmens in den Ring und gebietet Stille, worauf sich die laokoonhafte Gruppe der Kämpfer löst. Er verkündet: "Meine Damen und Herren, ich habe die Ehre Ihnen mitzuteilen, daß unter den Zuschauern dieses gewaltigen Schau- spiels das todgeweihte Mädchen von Vermont weilt. Ich bitte Sie, zu Ehren dieser Heldin ein feierliches Stillschweigen von zehn Sekunden zu bewahren." Auf ein gewinnendes Zeichen von ihm konzentrieren sich die Scheinwerfer auf die Heldin von Ver- mont und das Publikum schluchzt zehn Sekunden lang vor Ergriffenheit. Nach dem zehnten Glockenschlag spielt die Musik einen Tusch, der baumlange Kerl springt seinem Gegner an die Gurgel, der Schiedsrichter besteigt seine die Schultern jenes und das Publikum ist mit der gleichen, nur kurz unterbro- chenen Anteilnahme wieder dabei, voll Aufregung und unter frenetischem Geheul zuzu- sehen, wie die Sache ausgehen wird.

    Man schleppt die Heldin in ein Nachtlokal, wo man zu ihren Ehren ein Revuebild einlegt, in welchem die größten Heroi- nen der Geschichte hoch zu Roß auftreten. Anziehend aus-

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    gezogene Revuegirls reiten herbei, als Penthesilea, Lady Godiva oder sonst etwas der Art ausstaffiert. Zuletzt tritt in ihre Mitte aus dem Zuschauerraum, von donnerndem Applaus begrüßt, das todgeweihte Mädchen von Vermont, lieblich grinsend und alle an Heroismus übertreffend. Bereits total betrunken, fällt die Heldin der Länge nach hin, der alte Landarzt ist um sie bemüht. In höchster Er- regung stürzt der Herausgeber der Zeitung herbei: "Ist es so weit? Stirbt sie schon? Aber beeilen sie sich, mir etwas Positives zu sagen, denn in fünfzehn Minuten geht mein Morgenblatt in Druck."

    Natürlich ist es nicht so weit, aber der Reporter, der die Erfindung gemacht hat, meint immerhin, es sei an der Zeit, die nötigen Schritte zum letzten Coup zu unternehmen. Wenn die Heldin ihren Rausch ausschläft und seine durch den Gesang von Schulkindern ge- weckt wird, die sich zu ihren Ehren unter der Leitung ihrer Aufsichtspersonen versammelt haben, so erzählt er ihr, er müsse eben zum Gouverneur nach Albany, der Hauptstadt des Staates New York, um die Dispositionen für das Leichenbegängnis zu besprechen, denn schon seien vier- zigtausend Autos angemeldet. Vielleicht werde sogar der Präsident der Vereinigten Staaten kommen, wenn er nicht gerade mit Fischfangen befaßt sei (großes, wohlwollendes Gelächter des Publikums). Indessen gräbt sich der begabte Mann, der sich inzwischen in sein Opfer verliebt hat, selbst das Grab, da indem er einen berühmten Radiologen aus Wien bestellt hat, der nachsehen soll, ob die schreck- liche Krankheit nicht vielleicht heilbar ist (die Hersteller des Films haben aller- dings, soweit man nach der Figur des Radiologen urteilen kann, Wien offenbar mit Berlin verwechselt). Unnütz weiter auszu- führen, wie sich natürlich herausstellt, daß an der ganzen Radiumvergiftung kein wahres Wort ist. Die Zeitung, die in ihrer Existenz angeblich bis in ihrer Existenz bedroht wäre, wenn der Schwindel herauskäme, schließt mit dem todgeweihten Mädchen einen Kompromiß, indem dieses einen fingierten Selbstmord unter- nimmt und einen rührenden Abschiedsbrief an New York schreibt, der in der Zeitung faksimiliert erscheint. Alles gelingt nach Wunsch, und das glückliche Hochzeitspaar, Reporter und Radiummaid, erhält auf dem Schiff, das die beiden sie nach Cytheren bringt, ein Kabel vom Chefredakteur: "Begräbnis glänzend verlaufen, großer Erfolg."

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    Sh Schon der Titel dieses Films verät, daß dem Werk eine satirsche Absicht zugrunde liegt. Tatsächlich sind wesentliche Momente des amerikanischen Lebens mit erheblicher Schonungslosigkeit angegriffen: der Zwang, um jeden Preis ein Geschäft zu machen, und müsste man auch eine Todes- kandidatin durch die Gosse schleifen, und der Terrorismus einer Publizi- stik, die vor nichts halt macht, um ihrem Produkt Massenauflagen zu sichern. Wir habe in den letzten Tagen ein praktisches Beispiel da- von gesehen, als ein großes Wasserflugzeug auf der Reise von San Francisco nach Neuseeland explodierte und mit sieben Mann unterging Tagelang waren die Spalten der Zeitungen voll von dithyrambischen Schilderungen der Trauer der Witwen, denen die Reporter die Türen einrannten, um ihre erschütternden Aussprüche in Katastrophen- lettern auf den Titelseiten der Blätter zur Kenntnis des Lese- pöbels zu bringen. Daß der Reporter im Film "Nothing Sacred" ein sympathischer Jüngling, ein typischer, "darling" ist, dem man Glück und gute Geschäfte gönnt, biegt die Spitze die Satiere na- türlich schon ein wenig ab. Krasser ist schon die Figur des Herausgebers der Zeitung, der wieder von dem üblichen Stab von verbotenen Galgenvögeln umgeben erscheint. Sie dienen zur Überwachung seiner Opfer, wenn sich diese der publizistischen Marter etwa entziehen oder, einem günstigeren Angebot folgend, vielleicht gar zur Konkurrenz übergehen, wollten, eine Überwachung, die nicht ohne Brachialgewalt ausgeübt wird. Vernichtend ist das Urteil über eine Öffentlich- keit, die bis zu den höchsten Spitzen bereit ist, jedem Hum- bug aufzusitzen, wenn er mit der nötigen Insolenz ser- viert wird, und ebenso bereit, im nächsten Augenblick alles, was sie soeben für das Erschütterndste gehalten hat, sofort zu vergessen, wenn irgend ein neuer lärmender Schwindel seine Verlockungen ausstrahlt. Alle diese Elemente wären höchst begrüßenswerte Zeichen einer Haltung, die die Grund- übel des amerikanischen Lebens erkannt hat und ihm voll eifrigen Grimms den Spiegel vorhält. Einer solchen Deutung steht die Tatsache entgegen, daß ja auch dieser Film in erster Linie zu dem Zweck ersonnen wurde, ein großes Geschäft zu ma- chen, und daß seine Hersteller also, da er tatsächlich sehr erfolgreich ist, mit Recht damit rechnen dürften, daß das Publikum sich durch die satirische Behandlung seiner selbst bloß unterhalten, nicht aber angegriffen fühlen werde. So wird eher das Gegenteil einer satirischen Wirkung erreicht, der Betrieb zeigt wohl gewisse unsympathische Seiten, aber da alles gut ausgeht, so kann man schließlich nichts Ernsthaftes

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    einwenden. Am Ende sollte jedes Mädchen glücklich sein, wenn es mit Hilfe einer glänzenden "idea", und sei es auch nur die einer eingebildeten Radiumvergiftung, in den Mittelpunkt der öf- lautlichen Meinung rückt, einige Zeit auf Kosten der allgemeinen Ver- blödung herrlich und in Freuden lebt und zuletzt einen tüchtigen Businessman heiraten darf. Das Beispiel dieses dennoch ziemlich guten und auch gut ausgeführten Filmes lehrt, daß das Unterhaltungsge- schäft, der des Kinos selbst in der Ironisierung seines Gegenstandes schon sehr weit gehen kann, ohne seine eigene Existenz sich selbst zu untergraben. Die Wirksamkeit der echten Satire wird auf ein Minimum eingeschränkt, wenn die Vorur- teilslosigkeit so weit geht, daß man an nichts etwas auszusetzen fin- det, wenn nur ein Erfolg dabei herausschaut. Europa ist übrigens auf Grund einer entgegengesetzten Entwicklung praktisch zu dem gleichen Resul- tat gekommen, auch dort kann die Satire infolge des Mangels in verbindlicher Werterkenntnis kaum mehr wirken, nur liegt es dort daran, daß die Vorurteile nachgerade die Sphäre der Werte aufgezehrt haben, während hier die Wertung des Erfolges so stark ist, daß andere Wertmaßstäbe gar nicht aufkommen,

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    Ein anderer, sehr bemerkenswerter, wenn auch weniger beachteter Film hieß "Manhatten-Melodrama". Hier werden die Schiksale zweier Knaben geschildert, die bei der Brandkatastrophe des Dampfers "General Slocum" im Jahre 1904 ihre Eltern ver- lieren, worauf sie von einem russischen Einwanderer, dessen Kinder wiederum dort umgekommen sind, aufgezogen werden. Schon dieser Anfang mit einem schicksalsbildenden Elementarereignis ist sehr ein- drucksvoll. Später findet auch jener Russe bei einer politischen Demonstration den Tod, und, sich selbst überlassen, entwickeln sich die beinahe zu Brüdern gewordenen zwei jungen Menschen in sehr ver- schiedener Weise. Während der eine zum Spieler wird und in üble Gesellschaft gerät, wird aus dem anderen ein strebsamer Jurist und Politiker. Er wird zum Staatsanwalt von New York gewählt und als solcher bekommt er es mit den schlimmen Streichen des anderen zu tun. In sehr zugespritzter, kolportage- hafter Weise wird gezeigt, wie er gerade durch die Aufdeckung der Missetaten seines Quasi-Bruders zu immer höherer Geltung in seinem Amt aufsteigt. Die Gangsterbande des anderen ungeratenen Gesellen versucht, aus der Vergangenheit, in der die beiden noch in Verbindung waren, Kapital zu schla- gen und den angesehenen Beamten zu erpressen. Um die Gefahr abzuwenden, bleibt dem Chef der Bande, dessen edle Gefühle für den Freund natürlich fortleben, nichts übrig, als den ge- führlichsten seiner Bravos niederzuschießen. Darob vor Gericht

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    gestellt, wird er auf Grund des glänzenden Plaidoyers seines Busenfreundes zum elektrischen Stuhl verurteilt. Bevor das Urteil vollstreckt wird, steigt der Staatsanwalt zur Würde des Gouver- neurs von New York auf und muß als solcher das Gnadengesuch des Verdammten ablehnen. Zu spät erkennt er, daß das Verbrechen in seinem eigenen Interesse geschehen war, und er legt sein Amt, dessen er sich unwürdig fühlt, nieder, während der andere seinen letzten Gang antritt. Diese rührselig scheinende Kolportage-Geschichte schlägt durch die Zuspitzung ihrer Unwahrscheinlichkeiten und durch die unheimliche Rolle, die in ihr der Zufall spielt, in eine Qualität um, derer sich die Hersteller vielleicht kaum bewußt waren, sonst hätten sie diese Tendenz noch stärker unter- strichen. Das rasche, überspitzte Spielen mit den Antithesen erinnert ein wenig an Georg Kaiser, während das Motiv der divergierenden Schicksale, wobei der Aufstig des einen zu Lasten des anderen geht, bis die Katastrophe beide verdirbt, geradezu aus der Ideenwelt Raimunds zu stammen scheint.

    In dieser Möglichkeit, durch Tempo und Zuspitzung die plane Realität transparent zu machen, liegen die eigent- lichen künstlerischen Möglichkeiten des Films, und es ist im- merhin erfreulich zu sehen, daß sie da und dort wenigsten geahnt, wenn auch noch nicht erkannt werden. Für den Großteil des amerikanischen Films gilt leider nur zu sehr die Devise "nothing sacred", wenn es gilt, ein tüchtiges Ge- schäft zu machen.

    antiqua Das naheliegende Motiv, daß die Unerbitterlichkeit des strebsamen Mannes wenigstens unbewußt damit zusammenhängt, daß er den für seine Karriere gefährlichen Jugendfreund los sein möchte, wird bezeichnenderweise nicht augenützt, denn es würde die vom Publikum verlangte Schwarz-Weiß-Zeichnung, die ab- solute Makellosigkeit des "guten" Helden vielleicht stören.

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    Nothing Sacred

    Untertitel

    antigua!! essay

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    5

    Signatur

    LM-147

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Film
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