In eigener Sache…

Abstract

Ernst Krenek diskutiert in diesem Beitrag für Radio Bremen, gesendet am 19. Oktober 1955, aus der Perspektive eines zeitgenössischen Komponisten die Situation der Neuen Musik und ihrer Schwierigkeiten beim Publikum und bei den Konzerthäusern. Er geht dabei auf Unterschiede zwischen Europa und den USA ein und berührt Fragen der Rezeption und Kanonisierung von Musik.

    In eigener Sache.....

    In eigener Sahce sprechen - diese Wendung erinnert mich irgendwie an einen Angeklagten, der sich keinen Verteidiger leisten kann oder vielleicht denkt, dass er sich ohne bezahlte Rechtshilfe besser aus der Affaere wird ziehen koennen. Nun habe ich bei diesem vierten Besuch von Europa seit dem Ende des letzten Krieges nicht eigentlich den Eindurck, dass ich als Komponist und Musiker auf der Angeklage- bank sitze. Ich wurde ueberall mit Respekt und an vielen Stellen mit Herzlichkeit empfangen, und meine Musik wird nicht ungern gehoert - wo sie gehoert wird. Wenn mir die oeffentlichen Anklaeger ab und zu etwas vorhalten, so ist es in den meisten Faellen, dass vieles in meiner Musik kalt errechnet und gefuehllos sei. Darauf kann man sich in zwei Arten verteidigen. Einmal kann man versuchen, den Gegenbe- weis zu bringen und zu zeigen, dass die Musik in Wirklichkeit nicht gefuehllos ist. Oder man kann die Beweislast dem Gegner zuschreiben, und da gibt es wieder zwei Moeglichkeiten. Man kann entweder sagen: gut - nehmen wir an, dass Sie recht haben und dass die Musik tatsaech- lich gefuehllos ist. Was ist daran so bedenklich? Vielleicht ist Ge- fuehllosigkeit eine ganz legitime Moeglichkeit der Musik, die Sie, verehrter Anklager, noch nicht wahrgenommen haben. Oder man kann die Gegenfrage stellen: was verstehen Sie eigentlich unter Gefuehl? Die beiden letzten Moeglichkeiten sind anfangs amuesant, da sie den Geg- ner in Verlegenheit setzen, und spaeter ermueden, da sie ins Asch- graue fuehren. Die erste Moeglichkeit ist von Anfang an muehsam und aussichtslos, da man Gefuehle, oder was dafuer gehalten wird, kaum unter Beweis stellen kann. Es ist leicht, und vielleicht auch nicht falsch, zu sagen, dass Gefuehl in den meisten Faellen nur ein elegan- tes Wort fuer Vorurteil ist, d. h. ein Mensch reagiert auf Musik mit seinem Gefuehl, wenn sie eine Gestalt hat, die den in ihm schon vorhandenen Begriffen vom Zusammenhang von Musik und Gefuehl ent- spricht. Solche Begriffe nennen wir gewohnlich Vorurteile. Hier erhebt sich jedoch die Frage, auf welche Art solche Vorurteile eigent- lich enstehen. Wenn ich zunaechst von den vielen und unheimlichen Wegen der Propaganda absehe, durch die der Mensch, ohne es zu merken, zu festen Meinungen gezwungen wird, so laesst sich sagen, dass die Vorurteile auf versteinerten Gefuehlsreaktionen beruhen. In einem gewissen Stadium seiner Entwicklung hat der Mensch echt und unmittel- bar auf Eindrucke regiert. Gewisse Dinge haben ihn bewegt, erschuet- tert, begeistert - er hat sie wirklich geliebt. Ob nun dieses Erlebnis so stark war, dass es weiteren Eindruecken den Weg verschloss, oder ob seine Erlebnisfaehigkeit als solche ermuedete, so dass er auf neue abweichende Eindruecke nicht mehr in derselben Weise reagieren konnte, der Effekt ist der gleiche. Der Mensch, dessen Reaktionsfaehigkeit irgendwo stehen geblieben ist, vermisst schmerzlich die Wiederkehr jener beglueckenden Erlebnisse und schiebt die Schuld daran auf die neuen Eindruecke. Dies ist der Punkt, wo wir mit unseren ersten beiden Argumenten ansetzen koennen. Wir koennen sagen: vielleicht wuerde Ihnen diese oder jene Musik gar nicht so gefuehllos vorkommen, wenn Sie sich noch einmal in den Zustand des unbeschriebenen Blattes zurueckversetzen koennten und nicht automatisch von jedem neuen Eindruck erwarten wuerden, dass er die gleiche Reaktion wie die von Ihnen so geschaetzten frueheren Eindruecke erzeugen muesse. Oder wir koennen sagen: vergessen Sie einmal versuchsweise, dass Sie gewohnt sind, auf Musik mit Ihren Emotionen, oder was Sie so nennen, zu reagieren, und seien Sie bereit, Musik auch in irgendeiner anderen Weise interessant und gehaltvoll zu finden.

    Beide Wege sind zugegebenermassen schwierig, und wenn die Dispo- sotion dazu nicht von Natur vorhanden ist, bedarf es viel guten Wil- lens und mancher Muehe, sie zu versuchen. In Amerika, wo ich seit achtzehn Jahren lebe, wird man fuer dieses Argument wenig

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    Verstaendniss aufbringen. Dort geht man von dem Grundsatz aus, dass die Kundschaft immer recht hat, und die Kundschaft wird sagen: mein lieber Herr, wenn Sie glauben, dass ich Vorurteile habe, so nehmen Sie diese gefaelligst zur Kenntnis und richten sich danach, wenn Sie mir die Ware anbieten. Das beruht auf der Vorstellung, dass der End- zweck jeder Taetigkeit darin besteht, ihr Produkt an den Mann zu brin- gen. Wenn das nicht gelingt, so ist die Taetigkeit verrueckt oder beinahe frevelhaft. Wenn der Ausdruck "Wahrheit" in diesem Zusammen- hang ueberhaupt gebraucht wird, so ist er nur ein vornehmes Wort fuer Zweckmaessigkeit, und zweckmessig ist alles, was dazu dient, fuenf Pfennig oder fuenf Millionen von einer Tasche in die andere zu befoer- dern. Die Diktatur des Konsumenten ist freilich dadurch begrenzt, dass er einerseits das Objekt der ungeheuren Anstrengungen jener ist, die sich seiner fuenf Pfennig zu bemaechtigen trachten und andererseits von wenigen Ausnahmen arbeitslosen Einkommens abgesehen, selbst etwas produzieren und absetzen muss, um jene fuenf Pfennig zu erwer- ben, auf die es seine Mitarbeiter abgesehen haben. Vorurteile sind hier nicht bedenklich, sondern erwuenscht, denn um profitabel befriedigt zu werden, muss ein Geschmack erst einmal fest und in genau messbarer Form bestehen. Um ganz sicher zu gehen, schafft man den Geschamck mit Hilfe von sorgfaeltiger Propaganda, wodurch unvorhersehbare, auf unbefangener Wertschaetzung beruhende Gefuehls- reaktionen erfolgreich ausgeschaltet werden. Dieses Bild einer Kunstwelt, deren Gedeihen auf dem fortgesetzten Umsatz standardisier- ter Artikel beruht, trifft nicht bloss auf Amerika zu, sondern in einem hohen Grade auch auf Europa. Es ist von den den Managern und Verwaltern des Kunstbetriebes entworfen, die hier wie dort darauf achten muessen, wie die erheblichen Unkosten hereingebracht werden koennen. Ein Unterschied besteht vielleicht darin, dass dort die Manager aufrichtig genug sind, ihre Vorstellung vom geschaeftlich durchorganisierten Kunstleben als wuenschenswertes Ideal zu preisen, waehrend sie hier gerne vorgeben, dass ihnen die schwere Verkaeuflich- keit der sogenannten Kulturgueter leid tut.

    Das Erfreuliche ist, dass das Bild, das ich eben skizziert habe, ausserhalb des Marktplatzes gar nicht zutrifft, und der Marktplatz ist nur ein sehr begrenzter Teil des Gemeinwesens der Kunst, wenn auch der auffallendste und lauteste. Spontanes und von keinem Vorurteil und keiner Propaganda verfaelschtes Erleben spielt immer noch eine weit groessere Rolle als die Kulturpessimisten annehmen und die Geschaeftsoptimisten befuerchten.

    Manche Verwirrung ensteht, wenn Figuren, die eigentlich in ande- ren Bezirken wohnen, gelegentlich den Marktplatz kreuzen, und das bringt mich endlich zu meiner eigenen Sache, nachdem ich so viel ueber anscheinend ganz andere Sachen gesprochen habe. Wie man sich vielfach noch erinnert, habe ich seinerzeit mit meiner Oper "Jonny spielt auf" einen aeusseren Erfolg erzielt, der auch auf den Marktplaetzen als sehr beachtenswert galt. Wenn ich in meinem autobiographischen Buechlein "Selbstdarstellung " sagte, dass mich dieser Erfolg in Verwirrung setzte und schliesslich missmutig machte, so meinte ich damit, dass der Erfolg augenscheinlich dem Aufsehen zu verdanken war, das die Einfuehrung von Jazz-Elementen in das ernste Musiktheater erregte. Vielleicht war ich damit etwas zu streng sowohl gegen mich selbst als auch gegen das Publikum, das die Opernhaeuser fuellte. Wenn die Leute auch durch die sensationellen Aspekte des Stueckes angelockt wurden, so schien es ihnen doch als Ganzes zu gefallen, und das wuerde ich gewiss nicht als Missverstaendnis bezeichnen wollen. Was den Leuten an der Musik gefiel, war vermutlich die Tatsa- che, dass ich mich einer wohlbekannten, traditionellen Tonsprache bediente. Ich war damals mit den Errungenschaften des Modernismus, oder wenigstens mit meiner Handhabung dieser Errungenschaften nicht sehr gluecklich, und legte mir die Theorie zurecht, dass es moeglich

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    sein muesse, durch eine Art von Urerlebnis die traditionellen Mittel in ihrer alten Frische und Unberuehrtheit wiederherzustellen. Ich will annehmen, dass mir das zu einem hohen Grade tatsaechlich gelun- gen ist. Ich erlebte jedoch, dass das nur bis zu einem gewissen Punkt moeglich war, und dass diese etwas reaktionaere Kunstphilosophie meinem Ausdrucks- und Gestaltungsbeduerfnis alsbald nicht mehr genueg- te. Ich kehrte allmaehlich zur sogenannten modernen Tonsprache zurueck, Um jedoch eine Wiederholung meiner frueheren Enttaeuschungen zu vermeiden, wandte ich mich einer Darstellungsweise zu, die das neue Material einer etwas strengeren architektonischen Kontrolle unterwarf. Ich fand die Moeglichkeiten dazu in der Zwoelftontechnik.

    Zwoelftonmusik als solche erfreut sich keiner besonderen Populari- taet, besonders nicht bei jenen, die das zahlende Publikum mit musikalischen Eindruecken versorgen. Ihre Bedenken gruenden sich auf die Beobachtung, dass die Leute solche Musik nicht gerne hoeren wollen, und das sei leicht zu erklaeren, da diese Musik intellektuell erkluegelt und mathematisch errechnet sei, und somit offenkundig ein Verbrechen wider die wahre Natur der Musik darstelle, von der doch jedermann wuesste, dass sie als Sprache des Herzens den kalten Verstand ausschloesse und aus dem warmen Strom der Gefuehle ihre wundersamen Kraefte bezoege. Wenn es wahr ist, dass die Hoerer in weiten Kreisen sich fuer Zwoelfmusik nicht sehr begeistern, so liegt das, wie mir scheint, nicht daran, dass sie sich der Konstruktion dieser Musik bewusst werden und sie aus Prinzip ablehnen. Eine solche Motivation wird ihnen erst nahegelegt, wenn sie durch Programmnotizen und aehnliche Mitteilungen darauf gestossen werden, dass sie Zwoelfton- musik hoeren, und durch Kritiken und Buecher darauf aufmerksam gemacht werden, dass diese Musik widernatuerlich sei und daher abgelehnt wer- den muesse. In Wirklichkeit reagieren die Hoerer in einer viel naive- ren, umnittelbaren Weise. Wenn ihnen Zwoelftenmusik nicht gefaellt, so liegt es daran, dass viel Zwoelftonmusik unbedeutend und langweilig ist. Daran ist aber nicht die Methode schuld, nach der diese Musik komponiert ist, sondern der Umstand, dass ein sehr grosser Teil der MUsik, die geschrieben wurde und geschrieben wird, unbedeutend und langweilig ist. Von den Komponisten, die waehrend der reifen Jahre Beethovens, also etwa von 1800 bis 1830 taetig waren, haben wir eine Auswahl aus dem Lebenswerk von zehn oder zwoelf Meistern getroffen und fuer staendig erneuerte Begegnung bereitgestellt. Das ist wohl kaum mehr, sondern eher weniger als ein Prozent der Gesamtzahl der damals aktiven Komponisten. Ich glaube, dass diese Auswahl zu eng ist und dass manche interessante und liebenswuerdige Figur zu Unrecht vergessen ist. Man koennte die Liste vielleicht auf das Doppelte erweitern. Wenn wir jedoch die Arbeiten der vielen hundert uebrig bleibenden Tonsetzer jener Periode anhoeren muessten, so wuerden wir sie zweifellos unendlich langweilig finden, und so sind sie vermutlich auch vielen Zeitgenossen vorgekommen. Da die Frage einer neuen Tonspra- che und Kompositionstechnik damals nicht aktuell war, konnte man die Schuld nicht auf solche Umstaende schieben und begnügte sich, den Mangel mit der natuerlichen Begrenztheit mancher Begabung zu erklaeren. Warum sollte das heute anders sein? Angenommen, dass in jeder Epoche zehn bis zwoelf, oder auch zwanzig Komponisten von erheblicher bis ueberragender Bedeutung hervortreten, so koennen sie nicht anders festgestellt werden als dass man den tausend, unter denen sie sich befinden, Gelegenheit gibt, gehoert zu werden. Dieser Arbeit muessen wir uns schon unterziehen, damit sich unsere Kindeskinder an der Auswahl des Besten unserer Zeit erfreuen koennen.

    Da diese Auswahl ganz gewiss ohne Ruecksicht auf die von den Komponisten angewendeten technischen Methoden getroffen werden wird so waere es zweifellos besser, diesen bei der Entgegennahme eines Musikwerkes keine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Fuer Kochrezepte sollen sich im Wesentlichen nur Koeche interessieren - Gaeste nur dann, wenn

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    es ihnen geschmeckt hat, aber nicht vor dem Essen. Im Uebrigen ist technische Information entweder schwierig und anstrengend, oder sie ist sinnlos. Ueber die Zwoelftontechnik wissen Laien und selbst Fachleute so wenig wie ueber die Relativitaetstheorie, obwohl jene viel leichter zu begreifen ist als diese. Oft genug werden Musik- stuecke wegen ihrer angeblichen Abhaengigkeit von dieser Technik getadelt, obgleich sie mit ihr nicht das Geringste zu tun haben. Warum sollten wir also nicht von angenehmeren und wichtigeren Dingen reden, wenn wir schon ueberhaupt von Musik reden muessen? Dafuer einzutreten, will ich gerne zu meiner eigenen Sache machen, in welcher ich hier das Wort ergriffen habe.

    Radio Bremen - 1955

    Autor

    Ernst Krenek

    Titel

    In eigener Sache…

    Untertitel

    [Vortrag für eine Radiosendung des Radio Bremen]

    Sprache

    de

    Material

    Papier

    Seiten

    4

    Signatur

    LM-102-02

    Edition

    Digitale Edition in der Erstfassung 2024

    Lizenz

    CC BY-NC-ND 4.0

    Herausgeberin

    Ernst-Krenek-Institut-Privatstiftung

    Bearbeiter

    Till Jonas Umbach

    Fördergeber

    Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

    Schlagwörter

    Neue Musik, Musikleben
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