Ein Blick auf die Füße eines Giganten
Feature von Giorgio Sancristoforo
Nicht jeden Tag bekommt man die Möglichkeit das Instrument eines der bedeutsamsten Komponisten des 20. Jahrhunderts zu berühren. Und noch außergewöhnlicher ist es, wenn es sich bei diesem Instrument um einen der seltensten handgefertigten Synthesizer weltweit handelt, hergestellt von einem visionären Genie mit dem Namen Donald Buchla.
Ernst Kreneks Modular Synthesizer der Serie 100 ist wirklich einzigartig, nicht nur wegen seiner extremen Seltenheit, sondern auch weil er die Spuren einer mutigen und überraschenden Entscheidung bewahrt. Im Alter von 67 Jahren hatte Krenek bereits 200 Werke komponiert, darunter Symphonien, Opern und Ballette. Es wäre kaum verwunderlich, wenn sich sein elektronisches Schaffen auf die 1950er-Jahre und auf seine Arbeiten im Studio für elektronische Musik des WDR Köln beschränkt hätte. Dennoch entschied sich Krenek im Alter von 67 Jahren und mit solch großer Erfahrung für die Anschaffung eines innovativen Instruments, welches sich von allen bisherigen unterschied. Sein Zusammentreffen mit dem jungen Morton Subotnick am San Francisco Tape Music Center, der mit dem Buchla 100 „Silver Apples of the Moon“ aufnahm, löste bei Krenek keine Abneigung aus, sondern entfachte ganz im Gegenteil eine große Sehnsucht. Was Krenek in diesem Moment sah und verstand, war die Zukunft. Ohne zu zögern, bestellte er ein vollständiges modulares System und eine spezielle Tonbandmaschine von Donald Buchla. Diese Offenheit und Intuition offenbaren Kreneks Auffassungsvermögen und seine Fähigkeit den Zeitgeist zu spüren – eine Begabung, die nur große Künstler besitzen.
Der Buchla 100 war der erste moderne Synthesizer und wurde bereits vor Robert Moogs System entwickelt. Don Buchla arbeitete schon 1963 daran. Er verfolgte die Idee, ein tragbares und leistungsfähiges elektronisches Musikstudio mit modernen Transistoren zu erschaffen, um den mühsamen Prozess der Bearbeitung von Magnetbändern, welcher die elektronische Musik im vorangegangenen Jahrzehnt geprägt hatte, ersetzen oder erheblich beschleunigen zu können. Mit seinen Modulen zur Klangerzeugung, -manipulation und -sequenzierung ermöglichte der Synthesizer einen radikal anderen Ansatz als die Praktiken in den früheren elektroakustischen Studios. Mit den reichhaltigen und vielseitigen Möglichkeiten des Synthesizers wurde die Vision einer "musica ex machina" verwirklicht, die nicht durch die Ausführung von Interpret:innen beeinflusst wird und den Willen des Komponisten direkt zum Ausdruck bringt, wie es Edgar Varèse zu Beginn des 20. Jahrhunderts prophezeite.
Heute gehören analoge Modular-Synthesizer zu den meistverbreiteten Musikinstrumenten auf der Welt sowohl in der klassischen wie auch der populären Musikpraxis, von experimenteller Musik bis Techno, von Elektroakustik bis Ambient. Obwohl die Technologie aus den 1960er und 1970er-Jahren stammt, gibt es gegenwärtig tatsächlich mehr Modular-Synthesizer denn je. Diese Popularität und die weite Verbreitung sind auf die Berührbarkeit und Flexibilität dieser Instrumente zurückzuführen. Im Gegensatz zu Computern sind Modular-Synthesizer haptisch steuerbare und zuweilen unberechenbare Maschinen. Trotz der weit fortgeschrittenen Entwicklung von Computermusik, die eine logische Wahl für elektroakustische Musik ist, scheinen Modular-Synthesizer immun vor Krisen zu sein. Es ist eine Welt, die sich ständig weiterentwickelt und vergrößert, wie die geschäftigen Musikmessen, die sich diesen Instrumenten widmen, zeigen, darunter Superbooth in Berlin, die Frankfurter Musikmesse und Anaheims NAMM in Kalifornien. In dieser pulsierenden Welt der Klangsynthese bleibt der Buchla 100 so etwas wie ein Heiliger Gral. Er ist praktisch nicht nur der legendäre Vorgänger aller modernen Modular-Synthesizer, sondern wird auch für seine außergewöhnliche Organik und Ausdrucksfähigkeit geschätzt. Deshalb bleibt er auch in Form von zahlreichen Klonen präsent (LA67, Tokyo Tape Music Centre, Red Panel, und Buchla).
Die vier Werke, die ich mit Kreneks Buchla kreiert habe, sind nicht wirklich Kompositionen; ich würde sie vielmehr als Dialoge mit der Maschine beschreiben. Ich saß vor dem Modular-Synthesizer und stellte Fragen, die mir der Synthesizer beantwortete. Ich habe mich für vier verschiedene Stile entschieden (ein Subotnick-artiger Abstrakt, Drones, Soundscapes und Techno), um die ausdrucksstarken Möglichkeiten eines Instruments zu präsentieren, welches – theoretisch gesprochen – mit 56 Jahren recht primitiv sein müsste, aber in der Praxis weit davon entfernt ist.
In meiner über 30-jährigen Erfahrung mit diesen Maschinen, habe ich so gut wie nie Techno gespielt, weil mein Musikverständnis eher auf experimentelle Praktiken ausgerichtet ist. Dennoch war ich neugierig wie ein elektronisches Musikinstrument aus den 1960er-Jahren reagieren würde und das Ergebnis war überraschend. Dieses kleine Experiment demonstriert eine grundlegende Tatsache über technologische Musik, die oft missverstanden wird. Es gibt eine häufige Fehlannahme, dass elektronische Musik lediglich ein Produkt der Technologie ist. Beispielsweise wird oft davon ausgegangen, dass man Musik gespielt auf dem Theremin oder Ondes Martenot, oder auch Wendy Carlos‘ Interpretationen von Bachs Musik auf dem Moog Synthesizer als „elektronische Musik“ kategorisieren kann. In Wirklichkeit handelt es sich um klassische Musik, die mit technologischen Instrumenten aufgeführt wird. Elektronische Musik entstammt, wie jedes andere Musikgenre auch, ästhetischen und kompositorischen Bedürfnissen und ist nicht einfach nur ein Nebenprodukt der Technologie. Demzufolge hätte der Buchla 1967 sicher für die Produktion von Technomusik eingesetzt werden können, aber das passierte nicht, weil die für ihre Erschaffung notwendige Vorstellung zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierte.
Krenek näherte sich der elektronischen Musik, indem er eine eigene Sprache entwickelte und nutzte die Maschine nach seinen Vorstellungen, ohne davon überwältigt zu werden.
Eine der Gefahren bei elektronischer Musik besteht darin, dass nicht der/die Musiker:in das Instrument spielt, sondern das Instrument mit ihm/ihr spielt. Das ist eine andere Seite der Medaille der Technologie und bleibt auch im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz ein hochaktuelles Thema.
Krenek lieferte uns ein raffiniertes und intelligentes Beispiel dafür, dass der musikalische Geist Vorrang vor allem hat und eine notwendige Voraussetzung für das Komponieren ist, selbst mit einem Synthesizer. Ich hoffe, dass er, wo auch immer er sein mag, meine Arbeit mit seinem geliebten Instrument als eine bescheidene Hommage an sein Vermächtnis wahrnimmt.
Giorgio Sancristoforo arbeitete im Mai 2023 mit Ernst Kreneks Buchla Synthesizer im Salon Krenek. Während seines Aufenthalts entstanden folgende Werke