Aus Lothar Knessls Führer durch Ernst Kreneks Bühnenwerke
Kehraus um St. Stephan
Satire mit Musik in zwei Teilen (19 Szenen), op. 66 (1930)
Text
Ernst Krenek
Verlag / Rechte
Bärenreiter
LM BA 7323
Dauer
150 Minuten
Uraufführung
6.12.1990 (!)
Ronacher, Wien (Koproduktion Wiener Staatsoper, Wiener Festwochen, Vereinigte Bühnen Wien und Wiener Volksoper, im Rahmen des Festivals „Wien modern“)
D Peter Keuschnig
R Markus Weber
B Herbert Kapplmüller
Maske und Figuren Manfred Deix
Aufführungen
Volksoper Wien (2009/10) Theater am Kornmarkt, Bregenz (2008), Stadttheater Luzern (2008)
Aufzeichnung
2009, Capriccio 9001, 2 DVD: Karl V., Kehraus um St. Stephan. Bregenzer Festspiele. D John Axelrod; R Michael Scheidl; Symphonieorchester Vorarlberg; Othmar Brandstetter: Roman Sadnik, Sebastian Kundrather: Albert Pesendorfer, Ferdinand: Christian Drescher, Maria: Andrea Bogner, Alfred Koppreiter: Sebastian Holecek, Moritz Fekete: Michael Kraus, Emmerich von Kereszthely: Wolfgang Gratschmaier, Elisabeth: Elisabeth Flechl u.a.
Besetzung
Othmar Brandstetter, Rittmeister (T)
Sebastian Kundrather, Weinbauer(Bar)
Ferdinand, sein Sohn (später Ferry Conradi) (T)
Maria, seine Tochter (später Ria Conradi)(S)
Ein Flurwächter (Bar)
Alfred Koppreiter, Industrieller (Bar)
Schwoistaler (später Moritz Fekete) (Bar)
Emmerich von Kereszthely, Major (T)
Elisabeth Torregiani (MS)
Nora Rittinghaus (MS)
Herr Kabulke, Industrieller (Bar)
Oberwachmann Sachsl (Bar)
Statisterie (Diener, Wachmann, Bote, Tobias Lämmergeier, Pepi, Tangosänger, Spaziergänger u.a.)
Chor (SATB) – 2.2.4.2 – 2.2.2.1 – Timp, 3 Perc (incl. Glsp, Xyl), Git, Mand, Harm, Pft – Str
Themenkreise
Man kann sich doch nicht in einem fort umbringen
FERDINAND RAIMUND
Manchmal weiß ich nicht, ob ich ein Wiener oder ein Mensch bin
HELMUT QUALTINGER
Herrschen tut der Profit. Also regieren die asozialen Elemente. Und die schaffen sich eine Welt nach ihrem Bilde. Aber garantiert!
ÖDÖN VON HORVÁTH
Entstehung
Mit Kehraus um St. Stephan wollte Krenek „seiner geliebten Heimat in Form eines Bühnenwerks ein Denkmal setzen“. Der Komponist als bekennender Freund des „Heurigen“. Die UA fand allerdings erst 60 Jahre nach Fertigstellung des Werkes statt. - Der Einfluss von Karl Kraus ist offenkundig. Das Stück wurde wegen „...seiner vom erlauchten Vorbild bezogenen Aggressivität gegen rechts und links, Jud' und Christ, Sozi und Nazi von allen Betroffenen einmütig abgelehnt...“ (Krenek)
Zeit und Ort der Handlung
Etwa zwischen 1918 und 1928, Wien (Zentrum und Vorstadt) sowie Wienerwald-Heurigenschank
Inhalt
Der Erste Weltkrieg ist verloren. Armut, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Bankrotteure. Revolutionäre Ideen grassieren, Spekulanten wittern Morgenluft. Politische Gesinnungslosigkeit, Opportunismus und Bestechung regieren, Intriganten da und dort. Soziale Rechte bleiben missachtet. Unheilvolle Vorboten des Dritten Reiches. – Ein Untergangsbild, satirisch beleuchtet, mit einem (trügerischen) Hoffnungsschimmer: dass Liebe und innere Werte vielleicht doch überdauern.
Othmar Brandstetters Selbstmordversuch wird durch den Weinbauer Kundrather, dessen Tochter Marie und dessen Sohn Ferdinand durchkreuzt. Das hat vielerlei Folgen... - Ferdinand, ein „Roter“, ist für alles zu haben, wofür es Geld gibt; als Ferry Conradi kommt er letztlich ganz schön weiter. Auch Maria macht für Geld (fast) alles, sie bringt es mit Hilfe vermögender Herren zum Modesalon und steigt von Mizzi zu Ria Conradi auf … Einer der vermögenden Herren ist Alfred Koppreiter, einst Oberleutnant, nun wieder expansionslüsterner Industrieller. Er braucht Geld. Das verschaffen ihm: Elisabeth, ehemals Gräfin Torregiani, zu der Alfred enge Kontakte knüpft (sie wähnt Othmar, den sie liebt, tot; zu spät erkennt sie ihren Irrtum); Von Kereszthely, wendiger Honvédmajor a. D. mit äußerst guten Kontakten; Kabulke, deutscher Kompagnon mit der ganz dicken Brieftasche (er macht schließlich Maria/Ria zur Miss Vienna). Beim Heurigen offenbaren sich Kabulkes Eroberungsgelüste: Einmarsch in Polen und Frankreich… Und beim Heurigen muss Elisabeth erleben, dass sich Koppreiter von Maria/Mizzi mehr verspricht…
Othmar findet sich in diesem Umfeld samt zwielichtiger Gesellschaft nicht zurecht. Seine beruflichen Versuche enden im Fiasko. Elisabeth, die er liebt, glaubt er für sich verloren. Bis endlich Kundrather beide zusammenführt – in der noch heilen Welt des Weinbergs. Noch aber treibt Schwoistaler, recte Moritz Fekete, später Erich Atma Rosenbusch, sein übles Spiel. Er denunziert und erpresst. Durch lancierte Falschmeldungen ruiniert er Koppreiters Firma, Alfred erschießt sich im Prater. Dort kommt es, nach Entlarvung Feketes, zur Rehabilitierung Koppreiters und zu einer (Schein-)Lösung: Kabulke rettet fürs erste die Situation mit großen Worten. Doch läuft nicht alles nach seinen Vorstellungen: Da gibt es einige, die anfangen wollen, wieder Mensch zu sein …
Dessen ungeachtet: der Kehraus Österreichs hat schon eingesetzt.
(Lothar Knessl, in: Programmheft Wiener Staatsoper 1989/90, im Ronacher)
Musik
Der Gestus der Satire ist unverkennbar. Krenek mobilisierte „...noch einmal das romantische Rüstzeug“. Es werden aber auch „Momente hörbar, welche die bevorstehende und sich allmählich anbahnende kompositionstechnische Neuorientierung ahnen lassen. Gewisse Gestaltbildungen können … schon hier als 'prädodekaphonisch' gedeutet werden. … Zu den musikalisch stärksten Eindrücken gehören einige Abschnitte, in denen auf besonders geistreiche und brillante Weise mit Polyphonie umgegangen wird...“
(Michael Töpel, in: Programmheft Wiener Staatsoper 1989/90, im Ronacher)
… Alles in allem scheint die populäre Musik in diesem Werk … das musikalische Gewand, ja die Alltagskleidung, der opportunistischsten und vom allgemeinen Chaos profitierenden Gestalten zu sein.
(Simon Haasis, in: Programmheft Volksoper Wien, 2009)
Resümee
Siehe Themenkreise
Im Spiegel der Presse
Kehraus um St. Stephan ist ein zutiefst österreichisches Stück, stark seiner Entstehungszeit (1930) verhaftet. Trotz des historischen Hintergrunds bietet es Projektionsflächen ins Heute.
Die Presse
25.01.2009, Walter Weidringer zur Aufführung an der Wiener Volksoper
Es sind stark typisierte … Figuren, ihrer Herkunft nach zwischen (real existierender) Operette und etwa Ödön von Horváth einzuordnen, welche Krenek hier die Umbrüche sowie die politischen Grabenkämpfe der später sogenannten Zwischenkriegszeit durchleben lässt. Also wird nach Herzenslust (oder -not) gehandelt, geschmiert, vernadert, gehamstert, organisiert, getanzt, poussiert, getrunken – und immer ist bei dieser Wiener Melange der Tod dabei. …
Der Standard
25.01.2009, Ljubisa Tosic zur Aufführung an der Wiener Volksoper
Mit Kitsch haben die Wiederbegegnungen der hier Porträtierten nichts zu tun. Bei Krenek sind alle Figuren aus der Bahn Geworfene, die in politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen neue Stabilität suchen – nach dem Ende der Monarchie, in der Wirtschaftkrise.
Deutschland Radio Kultur
30.07.2008, Bernhard Doppler zur Aufführung bei den Bregenzer Festspielen (Kornmarkttheater)
Krenek wird wohl an eine jener mit Lokalkolorit versehenen kritischen Volksstücke gedacht haben, wie sie um 1930 beliebt waren, man kann an Carl Zuckmayers Fröhlichen Weinberg oder Ödön von Horvaths Geschichten aus dem Wiener Wald denken. Es gibt Winzer, Geschäftemacher, Presseskandale, Arbeiterführer, Prostituierte und Frauen, die sich… mit einer Boutique selbständig machen – und einen unangenehmen deutschen Industriellen.
Neue Zeitschrift für Musik 50/51:1 (1990)
Reinhard Kager zur Uraufführung im Wiener Ronacher
Es ist die dunkle Halbwelt von maroden Offizieren, verarmten Adeligen, Arbeitslosen, Spekulanten, Abenteurern und bereits faschistoid denkenden Industriellen, in der Ernst Krenek seine musikalische Satire...angesiedelt hat … Vermischt mit zeittypisch jazzigen und kabarettartigen Einsprengseln sowie wienerischem Kolorit, entwickelte der Komponist eine Burleske, die sich musikalisch zwischen Puccini, Schubert und Strauß, theatralisch zwischen Nestroy, Horváth und Kraus bewegt. … Krenek entwirft eine Parodie auf die Lebenswelt in Wien nach dem Ersten Weltkrieg, deren äußeren Handlungsrahmen eine bittersüße Liebesgeschichte bildet. …
Weiterführende Literatur
Bregenzer Festspiele (Hrsg.), Ernst Krenek [Oper im Festspielhaus - Karl V; Operette am Kornmarkt - Kehraus um St. Stephan; Orchesterkonzerte], 2008, S. 28-41
Volksoper Wien (Hrsg.), Ernst Krenek. Kehraus um St. Stephan, 2008/09
Christian Heindl, Ernst Krenek: „Kehraus um St. Stephan“ (1930). Bregenzer Festspiele, in: Österreichische Musikzeitschrift 7/2008, S. 46-47