Aus Lothar Knessls Führer durch Ernst Kreneks Bühnenwerke
Chrysomallos / Der goldene Bock
Oper in vier Akten, op. 186 (1962/63, Neufassung)
Text
Ernst Krenek (deutsch und englisch)
Verlag / Rechte
Bärenreiter
LM
Dauer
ca. 150 Minuten
Uraufführung
16. Juni 1964
Hamburgische Staatsoper, „Woche des zeitgenössischen Musiktheaters“
D Ernst Krenek
R Egon Monk
B Alfred Siercke
Aufführungen
keine
Aufzeichnungen
keine
Besetzung
Athamas, König in Jolkos (Bar), Ino, seine Gattin (MS), Nephele, seine Ex-Gattin, ein Wolkenwesen (KS), Pelias, sein Schwager (später Espalí, T), Jason, sein Neffe (später auch Amédé, Bar), Phrixos, Sohn des Athamas und der Nephele (stumme Rolle), Helle, Tochter des Athamas und der Nephele (stumme Rolle),
Chairosthenes, ein Seher (TB), Phineus, noch ein Seher (Bar), Melachron, ein Schafhirt (Bar), Chattahoochie, Häuptling des Inotenstammes (Bar), Abisorontas, sein Sohn (MS), Medea (später Sonja, MS), Ein Ausrufer (Sprechrolle), Glaukis, Tochter des Espalí (MS oder Kabarettstimme), Chief Butler bei Espalí (Bar), Ein Fürst im Exil (TB), Richter, Bezirksstaatsanwalt, zwei Polizisten (Sprechrollen), zwei griechische Zollbeamte (Sprechrollen), Flugzeugpilot (T oder Bar), Chrysomallos, der goldene Bock (T), Argo, das Schiff (A), Die Symplegaden, zwei Felsen (S und B), Chor: Inoten, Reporter, Passagiere, unsichtbare Wesen
2.2.2.2 – 2.3.3.0 – Timp, Perc (5) – eGit, Hfe, Pft, Cel – Str Tonb
Themenkreise
Antiker Mythos / Jetztzeit
Argonauten-Sage mit Varianten
Sinnlosigkeit hehrer Handlungen
Entstehung
Nach "Pallas Athene weint" erhielt Krenek 1961 von Rolf Liebermann einen weiteren Auftrag zur Uraufführung an der Hamburgischen Staatsoper. Dafür griff er auf eine Idee zurück, die ihn bereits 1924 beschäftigt hatte: „eine völlig phantastische und eigentlich surrealistische Gestaltung der Argonautensage“. Im Resultat ist die Einheit der Zeit aufgehoben zugunsten parodistischer und absurder Elemente.
Zeit und Ort der Handlung
Antike bis heute, Europa und USA
Inhalt
Vorbemerkung: Die Argonautensage ist in mehreren Varianten überliefert. Krenek erfindet eine weitere hinzu, die über Jahrtausende bis in die Gegenwart springt, ohne die Quintessenz des Stoffes zu verlassen.
König Athamas präsentiert seine Familie: den machtgierigen Schwager Pelias; die erste Gattin Nephele, wieder als Wolke entschwunden; deren Kinder Phrixos und Helle. Ihnen trachtet des Königs zweite Frau Ino nach dem Leben, um sie zu opfern. Da muss der goldene Bock Chrysomallos rettend helfen. Auf Nepheles Geheiß fliegt er mit beiden Kindern Richtung Kolchis. Unterwegs lässt er entkräftet Helle leider ins Meer fallen. Dort entstehen flugs die Symplegaden, aneinanderschlagende, die Durchfahrt behindernde Felsen (heute: Dardanellen). Und genau dorthin gerät Jason mit seinem redenden Schiff Argo. Er soll nämlich den Bock wieder herbei schaffen, und da er nicht recht weiter weiß, konsultiert er einen Seher.
Indes ist der Bock mit Phrixos in Nordamerika gelandet, beim Inotenhäuptling Chattahoochie. Phrixos glaubt, das Tier opfern zu müssen, wor aufhin ihn die Indianer erschießen. Um Touristen anzulocken, stellt Chattahoochie das Bocksfell zur Schau an die Straße, neben einen vermutlich ausgestopften Drachen – niemand anderer als Medea. Zufällig kommt Jason vorbei und besichtigt die Schaustücke. Da erwacht Medea und bietet Jason, falls er sie liebt, das Vlies an. Die zur Indianerin mutierte Medea und Jason versuchen, sich samt Vlies per Auto aus dem Staub zu machen, aber Chattahoochie will das Fell nicht herausrücken. Medea verspricht, es Jason unterwegs abzulisten und dem deswegen mitgenommenen Sohn des Häuptlings auszuhändigen, der misstrauisch die Flüchtenden verfolgt. Also zerstückelt Medea den Knaben und wirft die Teile aus dem Auto. Chattahochie findet sie und bringt sich um.
Weil Ino Jason verflucht hat, bleibt die Familie des Königs Athamas vom Schattenreich ausgeschlossen. Um das zu bereinigen, sollen Pelias und seine Tochter Glaukis endlich Jason mitsamt Vlies zurückbringen.
Zu diesem Zweck lässt sich Pelias als reicher Reeder in Florida nieder.
Medea und Jason arbeiten bei ihm. Sie brauchen Geld, um mit ihren beiden Söhnen nach Griechenland zurückzufahren. – Jason verliebt sich in Glaukis, Pelias in Medea. Im Gärtner erkennt Pelias den vermissten Jason und fordert das goldene Vlies ein. Dieser weigert sich und wird gefangen gesetzt. Letztlich sind beide handelseins: Jason eignet sich Glaukis an und überlässt dafür Pelias das Vlies und Medea. Ihr ist allerdings der Handel zu Ohren gekommen. Ungeliebt spürt sie ihre Rückverwandlung in einen Drachen und schwört Rache. Dieweil zerstückelt Glaukis ihren Vater Pelias.
Medea vergiftet sie und beginnt, ihre beiden Kinder zu verzehren … Die Behörden schieben Jason per Flug nach Griechenland ab. Man verdächtigt ihn, die mittlerweile vermissten Personen umgebracht zu haben.
Während des Rückflugs sitzt plötzlich Medea auf dem Flugzeug und verlangt, der Familie Jasons vorgestellt zu werden, stürzt aber in die Tiefe.
Der griechische Zoll beschlagnahmt das goldene Vlies. Jason erkennt, dass alle diese Untaten nichts gefruchtet haben und stirbt. Mit nichts kommt er zu seiner vor dem Hades harrenden Familie. – Das Vlies aber deponiert man dort, wo vor 4.000 Jahren der Chrysomallos gefunden wurde. – Eine Parabel der Sinnlosigkeit.
Musik
Krenek entmythologisiert den Mythos, indem er die disparatesten Elemente zusammenbringt […] Die Musik geht über kurze Einwürfe oder karg-sachliche Begleitung zu den hauptsächlich rezitativisch gesungenen Textpassagen meist nicht hinaus, wobei Krenek alle Register der raffinierten Instrumentation zieht (inkl. elektronischer Klangverfremdung bei übernatürlichen Geschehnissen). Dort, wo die Musik eigenständig wird, hält sich ihre parodistische Seite eher zurück: Der Walzer, der die grausige Zubereitung des Pelias’ zu einem Essen begleitet, ist nur angedeutet; die egozentrischen Koloraturen, in denen sich die über all dem Alltäglich-Grausigen schwebende Nephele ergeht, sind zwar als Kritik an der „absoluten Oper“ zu hören, hellen aber auch die gewöhnlichen Rezitative auf. Tiefsinnig lässt Krenek ausgerechnet Medea (das einzige zu wirklicher Liebe fähige Wesen in dieser Geschichte) lange expressive Passagen singen. An ihnen und an dem Ende, das wie alle Zeitsprünge seriell gestaltet ist und an dem sich die Zeitebenen wie Bewusstseinsschichten verwirren, zeigt sich deutlich, dass Krenek sein absurdes Spektakel als Oper ernst nahm [...]
Aus: Claudia Maurer Zenck, Der goldene Bock
Resümee
Krenek schuf mit seiner parodierenden Version der Argonautensage, die auch mit Seitenhieben auf die heutige Gesellschaft nicht spart, ein originelles Stück, dessen Absurditäten er mit seiner Musik gekonnt unterstrich.
Im Spiegel der Presse
Rezensionen zur Uraufführung am 16. Juni 1964 an der Hamburgischen Staatsoper
Neue Zürcher Zeitung 8.7.1964
Zwölftönige Reihe, serielle Berechnungen und (für die Flug- und Zauberszenen) 22 Tonbänder mit elektronischem Schall formen das Bild einer Partitur, die über dem diskret verhalt enen Orchester stets den Singstimmen und somit dem Wort Vortritt lässt. Krenek erzählt die Argonautensage neu und anachronistisch.
Zeit und Raum sind modern relativiert.
Die Zeit 26.6.1964, Josef Müller-Marein
In Wirklichkeit ist es ganz einfach schöne Musik – in der Zwölftonweis’ und in der seriellen Manier, kurzthemig, nicht kurzatmig. Übrigens: wer so verbohrt ist anzunehmen, dass damit keine „Melodien“ zu schreiben seien, der höre doch nur auf die Koloraturen […] es ist wunderschöner melodiöser Ziergesang aus schwebendem „impres-sio nistischen“ Wolkenwatte bausch […]
Weiterführende Literatur
Claudia Maurer Zenck, Der goldene Bock, in: Carl Dahlhaus u.a. (Hg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett, Piper Verlag, München 1989, S. 339– 341
Carl Dahlhaus, Die singenden Monstren, in: Theater heute, 5:1964 Ernst Krenek, Notizen zum Goldenen Bock, in: Programmheft – Hamburgische Staatsoper 1963/64, Nr. 16, S. 124–126