Gesang des Greises. Ernst Krenek und die historische Notwendigkeit des Serialismus
Ernst-Krenek-Studien Band 4
Christoph Taggatz
Zusammenfassung
Als der 1900 geborene Ernst Krenek 1957 beginnt, seriell zu komponieren, ist er (und seine Musik) alles andere als greisenhaft; ebenso wenig gilt dies für die Zeit seiner in Richtung des Serialismus weisenden, über eine bloß dodekaphone Vorordnung des Parameters Tonhöhe hinausgehenden rationalen Durchdringung des Materials. Bereits in den dreißiger und vierziger Jahren nahm Krenek serielle Techniken kompositorisch vorweg, auch an der theoretischen Ausarbeitung der neuen Ideen war er frühzeitig beteiligt. Auf diese Errungenschaften verweist Krenek in einem mit Gesang der Greise überschriebenen Leserbrief, in welchem er auf den von Theodor W. Adorno und Heinz-Klaus Metzger erhobenen Vorwurf des Alterns der neuen und neuesten Musik reagiert. Noch 1963 – dem Jahr der Publikation seines Leserbriefes – verteidigt Krenek das Weiterführen der in der jüngsten Musik begonnenen konstruktivistischen Kompositionspraxis gegen den Standpunkt einer aus seiner Sicht reaktionären Umkehr: »Wer einen längeren Atem hat, wird finden, daß noch viele und weite Routen zu befahren sind, an deren Ende weder Greisenasyl noch Narrenhaus warten.« Im Gegensatz zu den etwa dreißigjährigen Darmstädter »Senioren« hält Krenek das serielle Zeitalter keineswegs für überwunden.
Sein im Vergleich zum Hauptstrom avantgardistischen Komponierens verspätetes Festhalten an der seriellen Technik führt dazu, dass er von der sich in Darmstadt etablierenden Komponistengeneration nicht als »emeritierter Vorläufer«, sondern als »Nachläufer der Jugend« wahrgenommen wird, dass »musikalische Alterserscheinungen« an seinem Werk beobachtet werden.
Dass die Musik der seriellen Schaffensphase des »älteren Herrn« Krenek der Musik der jungen Generation – dem »Gesang der Jünglinge« – an dem Kunstwerk immanenter Notwendigkeit in nichts nachsteht, ist eine These dieser Arbeit. Ernst Kreneks serielles Arbeiten, die Einordnung dieser Schaffensperiode in den musikgeschichtlichen Kontext und die Legitimation der Kompositionspraxis aus teleologischen, immanenten Materialforderungen ist Gegenstand dieser Untersuchung. Von Bedeutung ist hierbei der Disput zwischen Krenek und Adorno über die teleologisch gesetzliche Notwendigkeit der rationalistischen Arbeitsweise und dem von Krenek früher vertretenen Standpunkt der Beliebigkeit der historisierenden Rückschau. Kreneks Arbeit steht zwar im Mittelpunkt dieser Untersuchung, aber auch die Sicht auf sein angeblich historisch exzentrisches Schaffen sowie die Geschichte des Serialismus mit seinem ästhetischen Alleingültigkeitsanspruch und seinen unterschiedlichen Ausprägungen werden behandelt.