100 und 20, 20 und 100: Ernst Krenek zum Gedenken

Jubiläum

Lassen wir zu seinem 120. Geburtstag nicht nur Blumen, sondern auch Zahlen sprechen. Beispielsweise könnte der Titel von Kreneks op. 100, der "Hurricane Variations" für Klavier, ohne Weiteres als Überschrift für sein Leben fungieren. Die originelle Werkbezeichnung geht zwar auf einen veritablen Hurrikan zurück, auf jenen Sturm, der im September 1944 die Bewohner der amerikanischen Ostküste in Angst und Schrecken versetzte – just an dem Tag, als Krenek die Arbeit an der Komposition aufgenommen hatte. Aber kennzeichnen Stürme und Verwirbelungen nicht sein Leben insgesamt? Dennoch begann es in eher ruhigen Bahnen: Am 23. August 1900 in Wien geboren, als Einzelkind in einem liebevollen, gutbürgerlichen Zuhause aufgewachsen, sah Krenek sich schon früh gefördert, etwa durch Fridolin Balluff, den Organisten der Votivkirche. 1920 jedoch, nachdem er seinem Kompositionslehrer Franz Schreker nach Berlin gefolgt war, begann ein unvergleichlicher, atemloser Sturmlauf. Scheinbar mühelos eroberte Krenek die internationalen Konzertsäle und Opernhäuser. 1923 konnte er bereits auf drei Sinfonien zurückblicken und zudem sein Bühnenwerk "Orpheus und Eurydike" vollenden, dessen Klänge anmuten, als stammten sie aus einer fernen Welt. Im selben Jahr legte Krenek sein op. 20 vor, das nunmehr dritte Streichquartett, welches er selbstbewusst dem Konkurrenten Paul Hindemith widmete. Es gab ihn als einen zu erkennen, der sich von den gängigen Klischees souverän abgenabelt hatte. Die üblichen vier Sätze? Weg damit! Dur-Moll-Tonalität? Es geht auch ohne. Strenger Kontrapunkt? Warum nicht lustvoll-freie Linearität! Kein Zweifel, 1920 war ein persönliches Schaltjahr für Krenek, eines, in dem es ihm gelungen war, die Weichen in die Zukunft zu stellen.

20 und 100 – Kreneks op. 20 könnte man als die Aktion eines energiegeladenen Himmelstürmers deuten. Umgekehrt liegt es nahe, sein op. 100 als die Re-Aktion eines gereiften, doch innerlich verletzten Komponisten zu verstehen, den die Zeitläufte aus der Bahn geworfen hatten. Seine „Entgleisung“ erfolgte in zwei Schüben. Zunächst hatten ihn die Nazis auf ihre „schwarzen Listen“ gesetzt. Folglich war ihm, der mittlerweile wieder in Wien wohnte, die Einreise ins Deutsche Reich verwehrt – ein Umstand, der einem Aufführungsverbot gleichkam. Dann aber, 1938, traf ihn ein noch weitaus härterer Schlag. Von einer USA-Tournee zurückkehrend, erfuhr er in Brüssel, dass die Wehrmacht in Wien zwischenzeitlich eingerückt war. Krenek geriet in ein politisches, ihn traumatisierendes Vakuum. Weder konnte er in sein nazifiziertes Heimatland einreisen noch hatte er ein Visum für einen anderen Staat. „Alles zertrümmert“, so lautete sein hoffnungsloser Tagebucheintrag vom 18. März des Jahres. Wochenlang irrte er durch Europa, von einem Konsulat zum anderen, bis er schließlich in die USA emigrieren konnte. Hier erfand er sich gewissermaßen neu. Für einige Jahre lehrte er an verschiedenen Hochschulen Komposition, zunächst, bis 1942, in Poughkeepsie (NY State), später an der Hamline University (Minnesota). Seine schöpferische Neugier blieb jedoch ungebrochen. Er studierte die Musik der Renaissance, vor allem die Werke Johann Ockeghems. Er setzte sich vertiefend mit den Möglichkeiten des reihentechnischen Komponierens auseinander, dem er mit seinem Bühnenwerk "Karl V." bereits 1933 ein grandioses Monument gesetzt hatte. Und er führte beide Komponenten zusammen, die Strukturen der Renaissancemusik und das Potenzial von Zwölftonreihen: in seinem abendfüllenden Chorwerk "Lamentatio Jeremiae Prophetae", einem Meilenstein der Musikgeschichte. Schließlich fand er in Dimitri Mitropoulos, dem Dirigenten des Minneapolis Symphony Orchestra, einen großartigen Verbündeten.

So mag man es als eine Art Wegweisung begreifen, dass Krenek die "Hurricane Variations" 1945 zu einem Orchesterwerk umarbeitete – mit Blick auf Mitropoulos, der es ein Jahr später aus der Taufe hob. Nun, in der Mitte seines Lebens, setzte der Komponist zum zweiten Sturmlauf an. 1950 veröffentlichte er in der „Neuen Zürcher Zeitung“ den ersten Artikel überhaupt, der sich mit den Chancen der Fernsehoper auseinandersetzte. Im selben Jahr nahm er seine langjährige Tätigkeit als Dozent der Darmstädter Ferienkurse auf. Neuland betrat Krenek auch im Elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks Köln. Aus der Arbeitsphase dort ging 1956 sein sogenanntes Pfingst-Oratorium hervor. Anfang der 1960er Jahre begann seine Zusammenarbeit mit der Hamburger Staatsoper und ihrem Intendanten Rolf Liebermann, eine fruchtbare Kooperation, deren Beginn die multimediale Oper "Der goldene Bock" markierte. Und gegen Ende des Jahrzehnts schaffte sich der nunmehr fast 70-Jährige einen Buchla-Synthesizer an, um sich weitere Terrains der elektroakustischen Klangwelt zu erobern.

Ernst Krenek liebte die Bergwelt, besonders die hochalpine, ihre massiven Felsen, Schlünde, Schluchten, Gletscher und Täler, die er oft durchwanderte, alle Details in sich aufnehmend. Fühlte er sich ihr in seinem Inneren verwandt? Jedenfalls lässt sich sein Lebenswerk durchaus mit einem Gebirge vergleichen: Man kann es nicht im Laufschritt durcheilen, sondern muss es erklimmen, um stets aufs Neue überrascht zu werden, durch seine Fülle und Vielfalt sowie den Reichtum an Perspektiven.

Dr. Matthias Henke

 

Back to Top